Kaisertag (German Edition)
aber ganz anders, als sie es erwartet hatten. Und keiner von ihnen wagte es, die Stimme dagegen zu erheben.
Dann kehrte langsam wieder Ruhe ein, und die Menge begann, sich aufzulösen. Die Schüler begaben sich in Siegerlaune zurück in das Schulgebäude, gefolgt von ihren immer noch ratlosen Lehrern.
Prieß ging auf Alexandra zu und begrüßte sie mit den Worten: »Also, so etwas wie das eben habe ich ja noch nie erlebt. Habt ihr hier in Lübeck so was öfter?«
»Überhaupt nicht. Du hattest die Ehre, einer Premiere beiwohnen zu dürfen«, antwortete sie. »Himmel, ich hätte nicht gedacht, dass es immer noch Lehrer gibt, die ihren Unterricht mit der Rute abhalten. Na, ich weiß, welcher Richter für solche Fälle zuständig ist. Rieckhoff wird nichts zu lachen haben, und das geschieht ihm ganz recht.«
»Musst du nicht befürchten, dass du Probleme bekommst?«
»Von den werten Herren Studienräten oder dem Schulsenator? Mach dir deswegen keine Sorgen, Fritz. Aber jetzt willst du doch sicher wissen, warum ich dich angerufen habe.«
»Es wäre schon nett, wenn du es mir verraten würdest«, erwiderte Friedrich mit sanfter Ironie.
»Dein Wunsch werde erfüllt. Mein Wagen steht da drüben, komm mit.«
»Aber mein Auto?«
»Das kannst du später abholen«, meinte Alexandra, während sie schon auf das Tor zuging. »Wir müssen jetzt unbedingt zum Allgemeinen Krankenhaus. Ich möchte dir jemanden vorstellen … obwohl ich befürchte, dass es eine etwas einseitige Begegnung wird.«
Alexandra schlug das weiße Laken zurück, und obwohl Friedrich auf einiges vorbereitet war, zuckte er unwillkürlich zurück: Ein junger Mann blickte ihn aus starren, weit aufgerissenen Augen an. Auf der rechten Seite war das wie in Panik verzerrte Gesicht fürchterlich entstellt, das Fleisch war bis auf die geborstenen Knochen fortgerissen und die Fetzen der verbliebenen Haut waren dick mit geronnenem Blut verkrustet. Der Mund stand offen, hinter der klaffend gespaltenen Oberlippe waren die zertrümmerten Überreste der Vorderzähne zu erkennen.
Prieß war kurz davor, sich zu übergeben. »Das ist ja ekelhaft. Warum muss ich mir das unbedingt ansehen?«, fragte er, wobei er den Brechreiz kaum unterdrücken konnte.
Alexandra hatte ein Einsehen und breitete das Tuch wieder über den Toten. »Das ist Siegfried Stölle, 20 Jahre alt, wohnhaft in Lübeck und ohne feste Arbeit. Außerdem war er ein Strichjunge. Bevor er so zugerichtet wurde, sah er recht gut aus – auf eine Art, die nicht mehr ganz junge Herren mit gewissen sexuellen Vorlieben sehr anziehend finden. Damit hat er sein Geld verdient. Für uns bei der Polizei war er kein Unbekannter.«
Sie verließen die weiß gekachelte, kalte Leichenhalle und wechselten in einen kärglich möblierten Nebenraum, wo auf einem Tisch eine Reihe zerrissener, rot verklebter Kleidungsstücke ausgebreitet lag. Prieß fühlte sich immer noch, als hätten die Temperaturen im Kühlraum und der Schock gemeinsam jeden Tropfen Blut aus seinen Gliedmaßen verdrängt. Er rieb sich die tauben Hände und schluckte kräftig, um den brennenden Gallegeschmack aus der Mundhöhle zu treiben. »Also, Jungs wie den gibt es auf St. Pauli zu Hunderten«, sagte er ein wenig heiser. »Ich verstehe immer noch nicht so recht, warum der da für mich von Interesse sein sollte. Typen wie der reizen mich schon in lebendigem Zustand nicht, das solltest du eigentlich am besten wissen.«
Alexandras Lachen hallte von den nackten Wänden wider. »Nein, das hatte ich auch gar nicht vermutet. Es sei denn, deine Vorlieben hätten sich seit damals stark verändert.« Dann wurde sie wieder ernst und zeigte auf den Tisch. »Das sind, wie du dir sicher schon gedacht hast, Stölles Sachen. Er wurde heute am frühen Morgen aufgefunden. Es sah ganz so aus, als hätte er in einer scharfen Kurve die Gewalt über sein Motorrad verloren, weil der Bremszug gerissen war. Und nun rate doch mal, was wir in seiner Jackentasche gefunden haben …«
Sie zog eine Schublade unter dem Tisch auf und holte einen zerknitterten Briefumschlag hervor. In der Ecke klebte eine Briefmarke, aber sie war nicht abgestempelt. Und als Prieß den mit einer Schreibmaschine getippten Namen des Empfängers las, war er für einen Moment sprachlos: Der Brief war an Gustav Diebnitz unter seiner Lübecker Adresse gerichtet.
»Was hatte dieser Strichjunge denn mit dem Oberst zu tun?«, fragte er verblüfft, obwohl er genau wusste, dass es darauf durchaus eine
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