Kaisertag (German Edition)
Sicht.«
»Natürlich, Frau Polizeipräsidentin. Dieses Subjekt, dieser Unterprimaner namens Karl Siebert, hat es gewagt, in meinem Griechischunterricht diese … diese widerwärtigen Hosen zu tragen. Ich forderte ihn auf, sich nach Hause zu begeben und in anständiger Kleidung zurückzukehren. Er aber weigerte sich, und als ich ihm für diese Widersetzlichkeit eine umfangreiche Strafarbeit gab, behauptete er in äußerst respektloser Weise, seine Hose ginge mich nichts an. Für diese Frechheit wollte ich ihn mit vier Stockschlägen zurechtweisen. Und was tat dieser Mensch? Nach dem ersten Hieb versetzte er mir einen Faustschlag in die Magengrube, entriss mir den Stock und zerbrach ihn. Man stelle sich vor! Ein tätlicher Angriff eines Schülers auf seinen Studienrat! Damit aber nicht genug, die Klasse quittierte diese Ungeheuerlichkeit mit Beifall, und wie Sie sehen, Frau Polizeipräsidentin, hat dieser Aufruhr die ganze Schule infiziert. Daran ist allein Siebert schuld. Ich verlange, dass Sie diese Person festnehmen!«
Die Ausführungen des Lehrers waren von Buhrufen der Schüler auf dem Hof und an den Fenstern begleitet worden. Als sich Alexandra Dühring nun aber dem beschuldigten Gymnasiasten zuwandte, wurde es fast schlagartig still.
»Und was haben Sie dazu zu sagen? Würden Sie den Hergang der Dinge auch so beschreiben wie der Herr Studienrat?«
Der Junge nickte. »Ja, Frau Polizeipräsidentin. Aber ich sehe trotzdem einiges anders. Zunächst mal gibt es am Katharineum keine Kleidungsvorschrift. Daher darf mich auch kein Lehrer bestrafen, nur weil er etwas gegen meine Hose hat …«
»Lächerlich!«, rief Studienrat Rieckhoff dazwischen. »Es ist das gute Recht …«
Ein mahnender Blick der Polizeichefin brachte ihn schnell wieder zum Schweigen, und der Schüler fuhr fort: »Ich habe dem Herrn Studienrat offen gesagt, dass ich so denke. Da hat er ohne Vorwarnung den Zeigestock ergriffen und mir einen Hieb auf die Hände versetzt. Das wollte ich mir nicht gefallen lassen, ich habe mich gewehrt. Kein Gesetz erlaubt es Lehrern, ihre Schüler zu prügeln!«
Wieder konnte der Studienrat sich nicht zurückhalten. »Unfug! Junge Menschen bedürfen körperlicher Züchtigung. Nur auf diese Weise kann ein ordentlicher Charakter geformt werden, das ist ein anerkanntes Faktum.«
»Herr Rieckhoff«, sagte Alexandra mit einem warnenden Unterton, »sind Sie ernsthaft der Auffassung, dass Schüler nur mit Schlägen zu erziehen sind?«
»Selbstverständlich, wenn sie sich eigensinnig zeigen. Stockhiebe brechen den sturen, widersetzlichen Geist, sodass wir Pädagogen neue, folgsame Menschen aus ihnen machen können. Gute, wertvolle Menschen, anders als dieser dort.«
»Was Sie denken, ist letztendlich Ihre Sache. Aber das ändert nichts daran, dass ich Sie jetzt verhaften muss, falls Karl Siebert sich entscheiden sollte, Anzeige gegen Sie zu erstatten.«
»Mich verhaften? Ja, haben Sie denn nicht verstanden? Diesen … diesen Aufrührer, diesen Sozialisten dort müssen Sie einsperren!«, entfuhr es dem ungehaltenen Lehrer.
Aber Alexandra Dühring erwiderte: »Ihr Schüler hat absolut recht. Es existiert kein Lübecker Gesetz, das es Ihnen erlauben würde, Ihre Schüler zu schlagen. Ob Sie und manche Ihrer Kollegen sich dieses Recht seit Ewigkeiten gewohnheitsmäßig herausnehmen, ist dabei für mich ohne Belang. Und falls Karl Siebert Sie anzeigen möchte, werde ich Sie, wie es in einem solchen Fall Vorschrift ist, festnehmen lassen.«
Sie drehte sich zu Siebert, dessen Augen sichtbar aufleuchteten. Genüsslich grinsend und voller Genugtuung antwortete er: »Frau Polizeipräsidentin, ich möchte Anzeige erstatten gegen Herrn Albert Aurelius Rieckhoff.«
Alexandra nickte knapp. »Herr Studienrat, ich verhafte Sie hiermit wegen vorsätzlicher Körperverletzung. Wachtmeister Aalendiek, führen Sie den Herrn zum Auto.«
»Das können Sie nicht tun!«, rief der Lehrer empört, wobei an seinen Schläfen die Adern weit hervorquollen. »Das ist ein ungeheurer Affront! Ich werde das melden, man wird Sie zur Verantwortung ziehen!«
Während ein Polizist den wutentbrannt schnaubenden Studienrat fortbrachte, feierten die Schüler ihren Triumph mit ohrenbetäubendem Johlen. Den wohl reichlich verhassten Rieckhoff bewarfen sie mit ihren Schülermützen, die zu Hunderten durch die Luft flogen. Die übrigen Angehörigen des Lehrerkollegiums waren still und sahen sich betreten gegenseitig an. Die Obrigkeit hatte gesprochen,
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