Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kaisertag (German Edition)

Kaisertag (German Edition)

Titel: Kaisertag (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
Vom Netzwerk:
fallende Licht formte dünne Schattenlinien auf dem Blatt, und die Schatten ließen eingedrückte Buchstaben sichtbar werden, die ihrerseits zum Fragment eines Wortes zusammenflossen: Diebn.
    Prieß hielt den Atem an. Er schaute noch einmal genauer hin, um sicherzugehen, dass ihm seine Augen keinen Streich spielten. Dann wollte er sich Klarheit verschaffen. Mit der flachen Bleistiftmine fuhr er vorsichtig über das Papier. Das Blatt färbte sich grau, und die Vertiefungen enthüllten das weiße Negativbild von vier Worten:
    Colonel Diebnitz unexpectedly deceased – »Oberst Diebnitz unerwartet verstorben«.
    Friedrich Prieß konnte es nicht glauben. Noch während er das Blatt verwirrt anstarrte, wurde ihm klar, dass er sich schon zu lange in dem Büro aufhielt. Er trennte den Zettel vom Block und steckte ihn ein. Dabei entsann er sich gerade noch seiner ursprünglichen Absicht und kritzelte auf ein zweites Blatt rasch eine Gedächtnisstütze, um die Überweisung nicht zu vergessen. Dann schaltete er die Lampe wieder aus und verließ den Raum, nachdem er sich überzeugt hatte, dass niemand auf dem Korridor war.
      
    Als er die Treppe herunterkam, versammelten sich die Gäste gerade um Yvonne Conway, die etwas bekannt geben wollte.
    »My dear friends«, verkündete die Engländerin, »es ist an der Zeit, dass Sie erfahren, welchem erfreulichen Anlass Sie diese kleine Party verdanken. Vor einigen Tagen erhielt ich diesen Brief aus London« – sie hielt das Schreiben hoch, damit es alle sehen konnten –, »in dem mir mitgeteilt wird, dass Seine Majestät King George VII. sich dafür ausgesprochen hat, mein Bild Willows in the Trave Valley in die Royal Blenheim Gallery aufzunehmen.«
    Sofort erhob sich begeisterter Applaus. Ein Bild in der Blenheim Gallery war für einen britischen Künstler wie eine Erhebung in den Adelsstand, wenn nicht mehr.
    »Thank you so very much«, bedankte Miss Conway sich mit einem glücklichen Lächeln. »As you know, ist das besagte Gemälde hier in Lübeck entstanden. No doubt, viel von der Atmosphäre des Bildes ist der Wirkung zu verdanken, die Ihre wundervolle, gastfreundliche Stadt …«
    Just in diesem Moment kam etwas durch das offene Fenster geflogen und klatschte nur zwei Meter hinter Yvonne Conway an die Wand. Jemand hatte von der Straße aus eine faule Tomate in das Haus geworfen, und draußen in der Dunkelheit brüllte der Unbekannte wütend: »To’n Düvel mit die Engländers!« Dann hallten die Schritte eines schnell weglaufenden Mannes durch die Nacht.
    Sämtliche Gäste waren wie zu Stein erstarrt. Einige blickten schockiert auf den hässlichen Fleck an der Wand, in dessen Mitte die zerplatzte Tomate langsam wie auf einer Schleimspur zu Boden zu kriechen begann. Andere sahen sich fassungslos gegenseitig an. Niemand sagte ein Wort.
    Es war Yvonne Conway, die schließlich den Bann brach, indem sie laut auflachte. »Well, ich dachte immer, wir Engländer hätten uns unbeliebt gemacht. But see, wir bekommen sogar Gemüse geschenkt. Wenn das kein gutes Zeichen ist, isn’t it?«
    Der Scherz war mittelmäßig, aber er erfüllte seinen Zweck. Ein erlösendes Lachen ging durch die versammelte Gesellschaft, und die Unterhaltung setzte zögerlich wieder ein. Der schale Nachgeschmack blieb jedoch.
    Senator Frahm ging auf seine Gastgeberin zu und meinte mit vor Besorgnis tief gefurchter Stirn: »Dieser Vorfall, Miss Conway, ist mir überaus unangenehm. Ich hatte geglaubt, die Einwohner dieser Stadt, ihrer Natur nach kühle und vernünftige Menschen, würden sich nicht von den augenblicklichen Ereignissen beeinflussen lassen. Im Namen der Freien und Hansestadt Lübeck möchte ich Sie um Entschuldigung bitten. Es ist mir unaussprechlich peinlich.«
    Yvonne Conway winkte ab. »Please, Herr Senator. Haben Sie die Tomate geworfen? Sehen Sie, es gibt also auch nichts, wofür Sie verantwortlich wären. Lassen wir uns die Stimmung von dieser Lappalie nicht verderben.«
    Dann kam auch Alexandra Dühring hinzu und bot der Britin Polizeischutz für ihr Haus an, doch Miss Conway lehnte ab. »Liebe Frau Polizeipräsidentin, Sie haben gewiss schon ohne Leute, die mit überreifem Gemüse um sich werfen, genügend Sorgen. There is absolutely no need for me to cause you additional headaches. Dies ist eine Party, amüsieren Sie sich und vergessen Sie diesen bedeutungslosen Zwischenfall, do me the favour. Oh, sehen Sie, Ihr Freund ist wieder da. Sie sollten mit ihm tanzen, he’s such a splendid

Weitere Kostenlose Bücher