Kaisertag (German Edition)
befinden? Die Antwort auf die Frage, wieso Gustav Diebnitz sterben musste? Oder lag Lämmle völlig verkehrt, und der Tod seines Dienstherrn hatte gar nichts mit den mysteriösen Feinden des Reiches zu tun, sodass der Inhalt des Briefes wertlos war? Alles schien möglich.
Nach einer guten Stunde Fahrt musste Prieß an einem Bahnübergang halten. Der Bahnwärter in der weißen Sommeruniform mit den zwei Reihen blanker Messingknöpfe und der blauen Schirmmütze der Großherzoglich Mecklenburgischen Staatsbahn hatte gerade die blau-weiß-roten Schranken heruntergelassen und stand nun wartend vor seinem Häuschen.
Kurz darauf war von Osten her auch schon das schnell lauter werdende Geräusch des herannahenden Zuges vernehmbar, der dann einige Momente später vor Prieß’ Motorhaube entlangrollte. Die schwere Güterzuglokomotive blies eine mächtige weiße Dampfwolke aus ihrem Schlot in die Höhe. Ihr folgten mit stakkatoartigem, metallischem Rattern über zwei Dutzend Waggons: Rungenwagen mit festgezurrten Feldgeschützen und Panzerautos sowie gedeckte Güterwagen, in denen laut Aufschrift sechs Pferde oder vierzig Mann Platz fanden. An den geöffneten Schiebetüren standen verschwitzte feldmarschmäßig ausgerüstete Soldaten.
Dann hatte endlich der letzte Wagen den Übergang passiert, und Prieß rechnete damit, dass die Schranken sich jeden Augenblick wieder heben würden. Aber nichts geschah. Der Bahnwärter stand nach wie vor neben dem Bahndamm und machte keine Anstalten, sich vom Fleck zu bewegen. Offenbar erwartete er noch einen zweiten Zug. Und tatsächlich, nach etwa drei Minuten kam eine weitere Lokomotive mit einer langen Schlange Waggons im Schlepptau aus derselben Richtung herangeschnauft. Wieder war es ein Militärtransport; diesmal trugen die Wagen eine komplette Versorgungseinheit mitsamt Feldküchen, Lastautos und Pferdefuhrwerken.
Als nach diesem Zug die Bahnschranken immer noch unbeweglich in der Horizontalen blieben, stellte Prieß den Motor ab und stieg aus dem Auto. Er wollte wenigstens wissen, wie lange diese unfreiwillige Pause wohl dauern würde, ging auf den Mann in der Eisenbahneruniform zu und sprach ihn an. Doch über die Begrüßung kam er nicht hinaus, weil das Telefon im Inneren des Wärterhäuschens schrillte. Der Bahnbeamte entschuldigte sich und verschwand im Haus.
Aus gewohnheitsmäßiger Neugier stellte sich Friedrich Prieß so nah wie möglich neben die offene Tür und hörte, wie der Eisenbahner mitten in einem erneuten lang gezogenen Klingeln den Telefonhörer abnahm und sich meldete: »Hier Oberbahnwärter Lehmann, Streckenposten 53 … ja, verstanden. Ich wiederhole: Insgesamt fünfzehn Züge mit absolutem Vorrang … jawohl, der Übergang bleibt durchgängig geschlossen …«
Friedrich hätte fast laut aufgestöhnt. Fünfzehn Züge!
Der Schrankenwärter kam wieder aus dem Haus. In einer Hand hielt er seine Mütze, mit der anderen wischte er sich über die feucht glänzende Stirn. »Verzeihen Sie bitte, ein dringendes Dienstgespräch. Was kann ich für Sie tun, mein Herr?«
»Eigentlich möchte ich nur gerne wissen, wie lange die Schranken denn geschlossen bleiben werden.«
»Leider noch eine ganze Weile. Eine Reihe von Militärzügen in dichter Folge ist auf der Strecke unterwegs. Sie fahren in sehr kurzen Abständen, daher wäre es zu aufwendig und zu riskant, die Übergänge jedes Mal zu öffnen und wieder zu schließen. Ich fürchte, Sie werden sich etwa eine Stunde gedulden müssen.«
Obwohl er in diesem Moment am liebsten die ganze Mecklenburgische Staatsbahn mitsamt dem Reichsheer zur Hölle gewünscht hätte, biss Friedrich die Zähne zusammen, bedankte sich für die Auskunft und ging zu seinem Automobil zurück.
Gerade rumpelte erneut ein Zug vorüber, als er den in abgestoßenes Leinen gebundenen JRO-Straßenatlas aus dem Handschuhfach holte. Mürrisch schlug er die Karte des Großherzogtums Mecklenburg-Schwerin auf und suchte nach einer Möglichkeit, die Bahnlinie zu umgehen. Aber zu seinem Verdruss fand er keine. Notgedrungen stellte er sich darauf ein, eine Stunde seines Lebens vor einer Bahnschranke mitten im ödesten Nichts verbringen zu müssen.
Schön, wenn ich jetzt sowieso wie ein Ochse am Bahndamm stehen muss, dann kann ich die Zeit ja auch nutzen.
Er griff nach dem Umschlag, trennte ihn mit dem Autoschlüssel als Brieföffner auf und zog ungeduldig drei Bögen Schreibmaschinenpapier heraus. Prieß konnte es kaum erwarten, endlich
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