Kaisertag (German Edition)
Diebnitz’ großes Geheimnis zu erfahren. Doch schon die Anfangszeilen bedeuteten für den Detektiv eine herbe Enttäuschung.
561 / 1-3 / 3-8 / 2-18 / 1-25 / 2-4 … – so ging es immer weiter. Die Zahlenkolonnen in der klaren Handschrift des Obersts füllten alle drei Blätter.
»Ein Code!« Prieß biss sich auf die Zunge, um nicht vor Ärger zu schreien. »Ein gottverdammter Code! Ich hab mir fast den Schädel zertrümmern lassen für einen beschissenen Brief, den ich nicht mal lesen kann!«
Er murmelte böse Flüche und stopfte die drei Bögen wieder zurück in den Umschlag. Jetzt wusste er zwar, dass dieses Schreiben wichtig sein musste, denn sonst hätte Diebnitz es nicht verschlüsselt; aber es nützte ihm nichts. Es war nichts weiter als eine neue Sackgasse, für die er diesmal sogar um ein Haar teuer bezahlt hätte. Wütend schlug er auf die Hupe, um sich abzureagieren. Niemand hörte das quäkende Geräusch, weil es im Lärm eines gerade vorbeiratternden Militärzugs unterging.
* * *
Den Hanseplatz verabscheute Alexandra Dühring von ganzem Herzen, und das schon seit ihrem ersten Tag in Lübeck. Die mit hellgrauem Kies bestreute Freifläche von gut hundertachtzig Metern Seitenlänge erstreckte sich als traurige Leere vor dem Holstentor und ließ das bullige Wahrzeichen der Stadt winzig wirken. Wenn hier nicht gerade öffentliche Zeremonien stattfanden, lag der ganze Platz verlassen und abweisend da. Selbst die malerische Hintergrundkulisse mit dem berühmten alten Stadttor, den Backsteingiebeln der Salzspeicher und den hoch über die Dächer der Altstadt aufragenden Türmen von St. Marien und der Petrikirche konnte die Atmosphäre eiskalter Seelenlosigkeit nicht vertreiben. Verschlimmert wurde das alles noch durch die architektonischen Zutaten, mit denen man dem reichlich kargen Hanseplatz ein wenig Schmuck zu verleihen versucht hatte: Die nördliche Längsseite zierten achtzehn lebensgroße Granitstandbilder von Gestalten der deutschen Geschichte, vorwiegend Feldherren, zwischen die sich einige Geistesgrößen verirrt hatten. Flankiert von Moltke und Kaiser Barbarossa blickte Goethe recht unglücklich von seinem Marmorpodest hinab.
Auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes befanden sich gleichfalls achtzehn Statuen, die jedoch Personen aus Lübecks Vergangenheit darstellten. Über die Kiesfläche hinweg starrten sich Senator Possehl und Feldmarschall Gneisenau verständnislos an, während sich Emanuel Geibel und Martin Luther gegenseitig mit den Blicken auswichen, verträumt der eine, entschlossen und kernig der andere.
Den Eingang zu diesem vollkommen missratenen Repräsentationsplatz bildete ein spitzer neogotischer Torbogen mit Treppengiebel, der vergeblich versuchte, monumental auszusehen, und trotzdem einfach nur übergroß war. Eine unübersehbare Inschrift aus grün angelaufenen Kupferbuchstaben verkündete stolz, der Hanseplatz sei 1942, im ersten Regierungsjahr Seiner Majestät Kaiser Wilhelms III., im Beisein von Prinzessin Caecilie eingeweiht worden.
Jeder Besucher Lübecks, der vom Bahnhof in die Altstadt wollte, wurde zwangsweise mit dem Hanseplatz in seiner ganzen zweifelhaften Pracht konfrontiert, weil die Straße zu beiden Seiten um dieses großflächige Zeugnis der Geschmacklosigkeit herumführte. Man musste die Stadt schon sehr lieben, um über so viel nutzlose Scheußlichkeit hinwegsehen zu können.
Alexandra konnte das nicht. Sie mochte Lübeck, aber der Hanseplatz war ihr zuwider. An diesem Tag sogar noch mehr als sonst, denn sie stand nun schon seit geschlagenen drei Stunden dort und musste gemeinsam mit einem knappen Dutzend Angehörigen des Kaisertag-Komitees die endlosen pedantischen Anweisungen des Protokolloffiziers von Cholditz anhören.
»Was diesen Teil betrifft, sind Sie ja vermutlich im Bilde«, näselte der Oberst. »Die Luftschiffe, die auf dem Weg von Gadebusch nach Kiel sind, werden in Paradeformation über den Platz hinwegfliegen. Zu diesem Zeitpunkt müssen alle Wagen des Festzuges die Tribüne passiert haben. Verzögerungen sind unbedingt zu vermeiden, da Seine Majestät sich nach Ende der Feierlichkeiten nach Kiel begeben wird, um den Sommermanövern der Ostseeflotte beizuwohnen. Haben Sie noch Fragen?«
»Ja, Herr Oberst«, sagte Dr. Reetwisch vom Städtischen Bauamt. »Ich habe Ihre Vorgaben für die Aufstellung der Kaisertribüne studiert. Mit Verlaub, der Standort ist sehr schlecht gewählt. An der Nordseite des Platzes würde die
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