Kaisertag (German Edition)
hinter sich und gingen die Holstenstraße hinauf. Alexandra entschied sich für eine Abkürzung und führte Prieß durch eine schmale, gebogene Nebenstraße. Sie kamen dabei an einer der Kirchen vorbei, die Lübecks mittelalterliches Stadtbild prägten. Paletten mit Ziegelsteinen, Zementsäcke und unidentifizierbare Fertigteile aus Beton stapelten sich auf dem Kirchhof.
»Was für ein Schwachsinn«, murmelte Alexandra im Vorübergehen.
Überrascht fragte Prieß, was sie damit meinte.
Sie blieb stehen und zeigte auf das Baumaterial. »Das da. Schau mal nach oben.«
Friedrich blickte auf und sah den Kirchturm, der sich in den Abendhimmel reckte. Direkt unterhalb des spitzen Turmhelms hingen vier Ecktürmchen, jedes etwa so groß wie ein Lieferwagen. »Originell«, meinte Prieß, »das ist mir bisher noch gar nicht aufgefallen.«
»Weißt du, was sie mit dem Turm gerade anstellen? Darauf würdest du im Leben nicht kommen, Fritz. Sie bauen einen Fahrstuhl ein, und ganz oben werden Aussichtsfenster in die Mauern gebrochen. Wer brütet bloß so idiotische Ideen aus?«
»Das meinst du doch nicht ernst. In einer Kirche?«
»St. Petri ist keine Kirche mehr, jedenfalls keine richtige. Die Gemeinde ist in den letzten Jahren stark zusammengeschmolzen, sodass sich eine eigene Kirche nicht mehr lohnte. Das Kirchspiel wurde St. Marien zugeschlagen, und die dadurch überflüssig gewordene Petrikirche auch. Irgendwer kam dann auf den begnadeten Einfall, dass man auch eine Kirche ohne Gemeinde noch nutzbringend verwenden könnte …« Verständnislos verzog sie den Mund.
»Ein Aussichtsturm in einer Kirche.« Prieß schüttelte den Kopf. »Was für ein Unfug.«
Sie setzten ihren Weg fort und betraten wenige Minuten später das Polizeipräsidium am Dom. Der alte Mann in der Pförtnerloge erhob sich von seinem Stuhl und wünschte ehrfurchtsvoll einen guten Abend. Ansonsten war das Haus bis auf die vier Mann der Nachtbereitschaft, die kurz zuvor ihren Dienst angetreten hatten, leer. Die Tür zur Wachstube war einen Spalt weit geöffnet, von drinnen waren die Stimmen der Skat spielenden Polizisten zu hören.
Friedrich folgte Alexandra in den ersten Stock. Das Vorzimmer ihres Büros war verlassen. In einer Ecke stand neben mehreren Aktenschränken der Fotokopierer, ein glänzend schwarzer Kasten aus Bakelit und lackiertem Stahlblech von der Größe eines Schreibtisches, an dessen Breitseite der verchromte Agfa-Schriftzug prangte.
Alexandra hob den Deckel und legte das erste Blatt des Briefes auf die dunkle Glasplatte. »Viertausend Mark hat dieses Monstrum gekostet«, sagte sie nebenbei, »mehr als ein nagelneuer Benz-Opel. Es war alles andere als ein Kinderspiel, das Geld für dieses Gerät bewilligt zu bekommen … der Finanzsenator hat mir ernsthaft vorgeschlagen, lieber häufiger Durchschlagpapier zu benutzen.«
Sie schloss die Abdeckung wieder und drückte einen weißen Schalter. Der Apparat begann zu brummen, unter den Rändern des Deckels trat grellweißes Licht aus. Dann fiel aus einem seitlichen Schlitz die fertige Agfagraphie in einen Auffangkorb.
Nach einer Weile hatte Alexandra zwei komplette Kopien des verschlüsselten Schreibens. Ein Duplikat gab sie Friedrich, das andere behielt sie selber. Den Umschlag mit dem Original legte sie in den Panzerschrank in ihrem Büro.
»Ich werde dann mal ins Hotel zurückfahren, ich bin hundemüde«, sagte Prieß und unterdrückte ein erschöpftes Gähnen. »Dieser ganze Zirkus heute … und dann ist noch nicht mal klar, ob es sich überhaupt gelohnt hat. Kann ich dich nach Hause bringen?«
»Furchtbar nett, aber ich habe hier noch Arbeit im Überfluss. Ich gehe später zu Fuß oder lasse mich von einem Polizeiwagen mitnehmen. Morgen werden wir uns vermutlich nicht sehen, ich werde mich voraussichtlich den ganzen Tag mit unangenehmen Dingen herumschlagen müssen.«
Sie dachte einen Augenblick nach, dann meinte sie: »Wenn du morgen mit Sonnenbühl sprichst – denk dran, der Fall ist für dich erledigt, der Grund für Diebnitz’ Selbstmord ist dir bekannt. Verstanden?«
Zuerst wollte Prieß erwidern, dass er so viel Vorsicht für übertrieben hielt. Aber er sah schnell ein, dass es Sinn ergab. Dass er die Nachforschungen abgeschlossen hatte, war eine Lüge; und wenn eine Lüge glaubhaft sein soll, muss man sie ohne Unterschied allen erzählen. Macht man dabei Ausnahmen, dann können sich verräterische Widersprüche ergeben, und für einen aufmerksamen Beobachter wird die
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