Kaisertag (German Edition)
Diebnitz am nächsten Tag vielleicht aufzuklären, änderte daran nichts.
Vielleicht ist das auch ganz gut so , dachte er, wer Angst hat, wird wenigstens nicht leichtsinnig.
Senator Herbert Frahm nahm die Brille ab und rieb sich die vor Müdigkeit brennenden Augen. Nur die Lampe auf dem mit Aktenstapeln und Briefen bedeckten Schreibtisch spendete Licht, der Rest des Arbeitszimmers lag in grauem Halbdunkel; lange Schatten fielen auf die Bücherregale und die Bilder an den vertäfelten Wänden, verwischten die Konturen und schufen eine bizarr unwirkliche Kulisse.
Matt lehnte sich der alte Senator in dem hohen Ledersessel zurück und gähnte. Ein flüchtiger Blick auf die kleine Tischuhr zeigte ihm, dass es schon nach ein Uhr nachts war.
Er wusste, dass er wieder viel zu lang gearbeitet hatte und dass seine Frau darüber nicht glücklich sein würde. Aber er konnte nicht anders. Für einige Menschen mochte Arbeit ein Vergnügen sein, doch für ihn war sie wie ein Zwang. Als er jung war, hatte er nicht hinnehmen wollen, als unehelicher Sohn einer Verkäuferin in einer Sackgasse geboren zu sein. Er hatte sich seinen Weg erkämpft und sich den Respekt seiner Umwelt dadurch erstritten, dass er immer ein Vielfaches der Leistung erbrachte, die man von anderen an seiner Stelle erwartet hätte. Das hatte ihn über Jahre hinweg Kraft gekostet, viel Kraft, und so sehr an seiner Substanz gezehrt, dass er die Folgen immer noch spürte. Aber er hatte es schließlich geschafft und war zum Senator der Freien und Hansestadt Lübeck aufgestiegen.
Es gab Momente, in denen ihm selbst das alles so unglaublich erschien, dass er fürchtete, es könnte nur ein Traum sein.
Das Telefon zerriss die Stille durch ein grelles Klingeln. Eine ungute Vorahnung überkam den Senator; Anrufe mitten in der Nacht bedeuteten nur selten angenehme Nachrichten. Er nahm den Hörer ab und meldete sich.
»Ich bin es, Graureiher«, sagte eine ferne Männerstimme. »Entschuldigen Sie, dass ich Sie zu dieser ungünstigen Zeit anrufe. Aber wir haben uns gerade entschieden, eine Warnung an alle auszugeben.«
Frahm hochte auf. »Eine Warnung? Besteht konkrete Gefahr?«
»Wir wissen es nicht mit Sicherheit. Vor einigen Tagen wurde Turmfalke beim Manöver in der Lüneburger Heide von einem Unbekannten in sehr unglaubwürdiger Tarnung angesprochen. Der Mann behauptete, Privatdetektiv zu sein, und versuchte, Turmfalke unter einem offenkundigen Vorwand über Diebnitz auszuhorchen. Was dahintersteckt, ist noch unklar. Aber Fuchs ist der Meinung, wir sollten vorsichtig sein.«
»Fuchs persönlich? Dann muss es ihn wirklich beunruhigen. Haben Sie schon etwas über diesen Unbekannten herausfinden können?«
»Nicht viel, leider. Wir arbeiten noch daran. Wir wissen, wie er sich nannte, aber das ist vermutlich ein bedeutungsloser Tarnname. Er sagte, sein Name sei Prieß.«
»Prieß?« Nun war Senator Frahm hellwach. »Friedrich Prieß? Etwa einsachtzig groß, um die fünfundvierzig Jahre alt, schlank, dunkelblonde Haare mit grauen Schläfen?«
Das Erstaunen war dem Mann am entfernten Ende der Telefonleitung deutlich anzuhören. »Ja, genau. Aber woher wissen Sie …?«
»Ich fürchte, Graureiher, wir stehen vor einem großen Problem …«
Sonntag, 29. Mai
Viel gab es nicht, wodurch sich Kronsforde von anderen Ortschaften unterschied. Das zu Lübeck gehörende Dorf lag auf einer Anhöhe oberhalb des Elbe-Trave-Kanals; seinen Kern bildeten einige Höfe und Bauernhäuser, locker um den Dorfplatz herum gruppiert, wie der Zufall und die Jahrhunderte es gewollt hatten. Erkennbare Planung hatte hier erst vor wenigen Jahrzehnten Einzug gehalten, als die zweistöckigen Wohnhäuser für die Arbeiter der Dampfmühle entstanden waren. Der große Mühlenbetrieb am Ufer des Kanals hatte Kronsforde auch sein neues Wahrzeichen beschert, einen vierzig Meter hohen Getreidesilo, an dessen dunklen Ziegelmauern weithin sichtbar der Schriftzug Germania-Mehl prangte. Abgesehen davon ähnelte dieses Dorf zahllosen anderen zum Verwechseln.
Prieß schaute sich misstrauisch um. Während der Fahrt war ihm im Rückspiegel ein sandfarbener Borgward aufgefallen. Er hatte das Gefühl gehabt, der Wagen würde ihm folgen. Aber jetzt stand Friedrich auf dem Dorfplatz von Kronsforde, und von dem Borgward war weit und breit nichts zu sehen.
Das wird ja immer schöner , dachte er, nun leide ich schon unter Verfolgungswahn. Es wird wirklich Zeit, dass ich diesen Fall zu Ende
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