Kaisertag (German Edition)
gedankenverloren die Wiese überquerte. Hier und dort wich er einer Distel im hohen Gras aus, aber sonst achtete er kaum darauf, wohin ihn seine Schritte führten. Er hatte heute neue Erkenntnisse erlangt, die er einzuordnen versuchte.
Was weiß ich jetzt? Dass es mit Diebnitz’ Ehe wohl nicht gerade zum Besten stand. Wenn das stimmt, warum freut sich seine Witwe nicht einfach, dass sie ihn endlich los ist? Vielleicht sollte ich Alexa diese Frage stellen, sie weiß besser, wie die weibliche Psyche funktioniert. Aber wahrscheinlich ist das sowieso völlig nebensächlich. Ich sollte lieber über Paul von Rabenacker nachdenken. Er war also Adjutant beim großen Helden des Chinakrieges … das könnte ein Hinweis sein. Diebnitz meinte doch, die Feinde des Reiches wären überall. Meinte er damit, dass sie hohe Positionen innehaben? Dann könnte vielleicht der Feldmarschall … nein, Unfug. Meine Phantasie schlägt langsam Purzelbäume …
Mit dem Handrücken wischte er sich den Schweiß von der Stirn und stöhnte genervt. Mit dem Wissen, dass nur einen Katzensprung entfernt eine Höllenmaschine lagerte, gegen die sich die größten Zeppelin-Bomben wie harmlose Knallfrösche ausnahmen, fiel klares Denken schwer.
Mir wär’s lieber, ich hätte nie von der Atombombe im Institut erfahren. Darüber Bescheid zu wissen, geht ganz schön an die Nieren …
Er hatte den Gedanken noch nicht ganz zu Ende geführt, da spürte er plötzlich, wie sein rechter Fuß ins Bodenlose trat. Noch bevor er reagieren konnte, stürzte er und rutschte eine Böschung hinunter. Ehe er sich versah, saß er bereits im flachen Wasser eines trüben Rinnsals.
Fluchend rappelte Prieß sich wieder auf. Er war in einen knapp anderthalb Meter tiefen Entwässerungsgraben gefallen, dessen Ränder mit üppig wucherndem Gras und Gestrüpp bewachsen waren und der daher kaum noch sichtbar war.
»Der perfekte Höhepunkt dieses Tages«, knurrte Prieß. Er wollte gerade wieder aus dem Graben klettern, da bemerkte er, dass der Wasserlauf nur wenige Schritte weiter in einem gemauerten Durchlass verschwand. Die runde Öffnung hatte einen Durchmesser von etwa achtzig Zentimetern und wurde durch ein Drahtgeflecht versperrt. Zumindest war es einmal so gewesen, denn der dicke Eisendraht war jetzt völlig verrottet und weggebröckelt. Alles, was normalerweise unterhalb der Wasseroberfläche lag, hatte der Rost über die Jahre zerfressen und schließlich ganz verschwinden lassen.
Da hat wohl jemand am falschen Ende gespart , dachte Prieß und stieg dann die steile Böschung hinauf. Oben angekommen fiel ihm auf, dass das Entwässerungsrohr offenbar erst unter dem Mönkhofer Weg und dann unter dem Zaun des Physikalischen Forschungsinstituts hindurchführte, falls der unterirdisch verlaufende Bach nicht vorher irgendwo scharf abknickte.
Das würde das Gitter erklären. Aber wieso kümmert sich dann niemand darum, dass es völlig weggerostet ist? , fragte der Detektiv sich. Die Antwort fand er bei einem erneuten Blick auf das fast völlig von Unkraut und Büschen verdeckte dunkle Loch. Auf gleicher Höhe mit den Resten des Drahtgeflechts verlief auf dem Mauerwerk eine breite grüne Linie. Sie zeigte deutlich, wie viel Wasser aus den feuchten Wiesen der Graben normalerweise führte. Und wenn es so hoch stand, konnte man nicht erkennen, dass unter der Wasserlinie vom Gitter nichts mehr übrig geblieben war. Doch durch die ganz außergewöhnliche Trockenheit der letzten Tage war der Bach fast ausgetrocknet.
Prieß betrachtete noch einmal das Abflussrohr. Vielleicht, so dachte er, würde ja Yvonne Conway oder sonst jemand diesen einladenden Hintereingang zum festungsartig gesicherten Forschungsinstitut entdecken und die Atombombe stehlen. Die Vorstellung, was Maximilian Sonnenbühl dann vermutlich zu erwarten hätte, fand er sehr unterhaltsam. Dann wischte er sich den gröbsten Dreck vom verschmutzten Anzug und ging zurück zu seinem Auto.
Während Friedrich Prieß in der Kabine der Blitzreinigung saß und darauf wartete, seinen gesäuberten Anzug zurückzubekommen, begannen ihn Skrupel heimzusuchen. Er war sich nun gar nicht mehr so sicher, ob er sein Wissen über Yvonne Conways Tun einfach für sich behalten durfte. Sie war eine Agentin Englands, die gegen das Reich arbeitete; und trotz aller Enttäuschung und Wut mochte Prieß nicht zum Verräter an seinem Land werden.
Sicher, ein paar verkalkte Offiziere und ein falscher Freund haben mir einen Tritt in den
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