Kaktus zum Valentinstag
jeder andere Raum auch. Und dass das »Kreiß« rein gar nichts mit einem Kreis zu tun hat, sondern eher mit Schmerzen und Wehen zusammenhängt, erfahre ich hier ebenfalls. Das käme von kreißen und nicht vom Kreis.
Es dauert nicht mehr lange, da beobachte ich, wie das Flugzeug über die letzten spitzen Berggrate auf die mitten im Dschungel liegende kurze, eiligst hingebaute Landebahn zuschwebt. Ich starre auf den Wehenschreiber, auf das EKG und alle sonstigen Geräte. Aber es ist dieser Wehenschreiber, dem meine ganze Faszination gilt.
Denn dort entdecke ich etwas, das ich schon einmal in ferner Vergangenheit meines jetzigen Daseins erlebt habe, ohne wirklich zu wissen, was es war und woher die Erinnerung kommt. Ich habe es oft erzählt, aber niemand wusste etwas damit anzufangen. Ich habe es immer das »Dutummen von Obenhinten« genannt, weil es sich mir geheimnisvoll aufdringlich und immer unangenehmer näherte. Es störte das ruhige, sanfte Schlierenspiel, das bis dahin alles beherrschte.
Es waren tief dröhnende, immer dichter und dichter kommende Vibrationen von Obenhinten. Die immer wieder aufhörten, um sich von Neuem an mich heranzupirschen. Das kam erst ganz selten und leicht vor, dann immer öfter und immer näher. Irgendwann wiederholte sich das Ganze so stark, bis es sich sogar selbst verstärkte undsich so stark ins schmerzfrei Unermessliche hineinsteigerte, um genau dann ganz urplötzlich für immer aufzuhören, als es mich zu vernichten drohte.
Der Verlauf dieser Kurven auf den Geräten spiegelt ganz genau dieses Anpirschen und die Intensität der erlebten Vibrationen wider. Davon bin ich erstarrt. Denn es war offenbar meine eigene Landung, an die ich mich immer wieder erinnerte. Wie ich sie erlebt hatte, ohne wirklich begreifen zu können, was da geschah.
Und nun fasse ich Martina an, wohl wissend, dass da drin jetzt auch so ein Wesen ist, das dieses sich in sich hineinsteigernde Dutummen erst überstehen muss, bevor es die Außenwelt wahrnehmen kann. So wie ich damals körperte, um durch den Körper in der Zeit einzurasten, um überhaupt die Welt wahrnehmen zu können.
Im Philos, meinem Tagebuch, halte ich den Ablauf der Landung genau fest:
2:10 Uhr Fahrt zum Weltflughafen (Krankenhaus)
2:40 Uhr Muttermund 4,5 cm auf
3:00 Uhr Ankunft im Kreißsaal
4:00 Uhr Abgang Schleimpfropf
4:38 Uhr Abgang Fruchtwasser
Es ist der Moment, in dem der Kopf des ersten Ra zwischen Martinas Beinen hervorschaut, als das Flugzeug die ersten Meter der Landebahn überstreicht. Um genau 6:58 Uhr setzt schließlich die Maschine leicht schlingernd auf, berührt mit einer Tragfläche den Boden und kommt rechtzeitig vor dem knappen Ende der Bahn zum Stehen.
So folgt denn auch die Notierung der letzten Stufe der Landung:
6:58 Uhr Touchdown
Interessanterweise genau die Uhrzeit, zu der ich selbst meist wach werde, gerade rechtzeitig zu den 7-Uhr-Nachrichten auf NDR2.
Die Geburt des ersten Ra ist somit glimpflich glücklich verlaufen. Und so gibt mir die Hebamme eine übergroße Schere in die Hand, mit der ich die Unabhängigkeit des ersten Ra, das als Raphael angekommen ist, von seiner Mutter herbeiführen soll. Ich betrachte diese gnubbelig glitschige Schnur, die Martina noch mit Raphael verbindet. Ich sehe darin eine in sich verschlungene Versorgungsautobahn, die ebennoch voller Verkehr war, die Leben lieferte. Aber sie ist fortan nicht mehr nötig, denn Raphael meldet nach einigem Glucksen seine erfolgreiche Landung durch babykrächzenden Lärm an. Den Begrüßungsschrei der Unabhängigkeit: »Ich bin gelandet!«
Spätestens damit wird der Verkehr auf der verschlungenen Versorgungsautobahn wohl zum Erliegen gekommen sein. So durchtrenne ich schließlich und doch noch etwas unsicher die Schnur des Lebens. Endlich ist der Weg frei für die ersten Streicheleinheiten zwischen Mutter und Kind. Dann wird Raphael von der Hebamme auf einen Schrank gelegt, wo er sein Quaaaatsche-Organ zur vollen Entfaltung bringt.
Weil Martina im Krankenhaus ist, muss ich jetzt zu Hause all das machen, was die Papamamas nicht oder nur schwer für mich machen können. So fahre ich nach Peine in die Stadt, um die Landung von Sohn Raphael Jonathan dort offiziell zu melden. Anschließend gehe ich in die noch weihnachtlich strahlende Fußgängerzone, um ein Souvenir zu besorgen, das Raphael begrüßen soll. Und dabei suche ich gezielt nach etwas, das mir in seiner Situation sehr gefallen hätte. Etwas Warmes, Weiches, Buntes. Mit den
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