Kaleidoscope: Kriminalroman (German Edition)

den Speisewagen. Die in regelmäßigen Abständen seitlich am Waggon angebrachten Fenster unterteilten die vorbeiziehende Landschaft in Einzelbilder wie Klebestellen in einem laufenden Film, eine Serie von Bildern, die in bewegungslosen Scheiben aufflackerte, denen nur die sechs Triebräder des Zugs Aktivität und Leben einhauchen konnten. Während Jacks unruhigem Schlaf hatten Zwergpalmen und Kiefern die Eichen und das Virginiamoos abgelöst. Das nun vorbeirasende Land gehörte noch den Seminolen …
    Klack-klack, klack-klack, klack-klack .
    Er griff nach einer Zigarette, aber überlegte es sich dann. Die Luft war sowieso schon dick genug. Im Waggon herrschte drückende Hitze. Er wollte raus! Oben auf den Pullman steigen, Mantel und Kragen aufreißen und den steifen Fahrtwind in seine Lungen dringen lassen. Mehr sehen als nur verschwommen grüne Vegetation.
    Sie mussten in Küstennähe sein, aber es war unmöglich zu sagen. Das Brachland ringsum dominierten Nadelbäume, die sich ganz nah ans Gleisbett drängten, sodass nur ein schmaler Streifen Himmel zu sehen war, der die Farbe von Amethyst annahm. Kein Leben regte sich, nicht einmal ein Bussard, in dieser sengenden Hitze unter pflaumenfarbenen Wolkenstreifen.
    Alle Fenster des Waggons waren weit geöffnet und jeder weibliche Fahrgast hielt einen Fächer in der Hand. Jack hatte dem Kaffee ganz abgeschworen und genoss den fremdartigen Geschmack von mit Sirup gesüßtem Eistee, den ihm ein schwarzer Steward servierte, der zu Jacks Verärgerung nie ins Schwitzen zu kommen schien. Die Tampa Tribune bot ein wenig Unterhaltung. Zwei Spalten dieser Postille wurden darauf verwendet, das Wunderwerk des Southern Star zu preisen, des größten Passagierflugzeugs der Nation. Eine wunderbare Flugmaschine, wie die Zeitung verkündete. Sie konnte zwanzig Passagiere bequem von Tampa nach Chile bringen.
    Jack schüttelte den Kopf. Wer, der noch alle beisammenhatte, würde sein Leben einem Aeroplan anvertrauen, der über Wasser fliegt?
    Andere Artikel befassten sich mit Lokalnachrichten. Die durch die Mittelmeerfruchtfliege verursachten Ernteschäden waren immer noch Nachrichten und Kommentare wert. Tausende Hektar Obstplantagen zerstört, las Jack. Vermögen über Nacht verloren. Aber die Reichen bildeten sich natürlich immer ein, immun zu sein: Auf zwei kompletten Spalten wurde aufs Schleimigste das Mirasol Hotel in Tampa gepriesen. »Eine Wiederbelebung mediterraner und maurischer Architektur«, erklärte der Artikel ganz fachmännisch, »mit Anklängen venezianischer Gotik.« Anscheinend sehr beliebt bei Monarchen und reichen Leuten, aber der restliche Immobilienmarkt in Tampa bekam die Auswirkungen der Spekulationen zu spüren.
    Und nicht nur die Immobilien machten Investoren in der sonnenverwöhnten Stadt nervös. Der Zeitung zufolge war die Stadt in finanziellen Nöten. Die Citizens Bank & Trust hatte im Juli zuvor für immer ihre Pforten geschlossen und Kunden, die ihr ganzes Erspartes verloren hatten, stürmten die Gerichte. Jack schnaubte höhnisch. Jeder andere Ort im Land schwamm im Geld. Was war nur mit diesen Clowns los?
    Aber ansonsten sah Tampa aus wie jede andere Stadt. Der Volstead Act wurde im Süden auch nicht besser durchgesetzt als im Mittelwesten. Razzien und reiche Hintermänner. Glückspiel war hier Big Business, was für Jack besonders interessant war. Bolita , ein ihm unbekanntes Spiel, versprach anscheinend gute Gewinnquoten. Charlie Wall, einer der Könige des »kleinen Balls«, war auf freien Fuß gesetzt worden, da der Jury die Beweise oder der Mut fehlten, ihn wegen Drogenhandel im großen Stil hinter Gitter zu bringen.
    Alkohol, Glücksspiel, Drogen. Genau wie anderswo.
    Es gab die üblichen Klatschspalten, die ihre Leser über Sportler und Prominente auf dem Laufenden hielten, die in der Stadt Urlaub machten oder bisweilen auch arbeiteten. Aber nicht alle Besucher waren gleichermaßen willkommen. Es gab einen Aufruhrum die Aufführung von Onkel Toms Hütte . Örtliche Mitglieder der United Daughters of the Confederacy waren mit der Darstellung des Ku-Klux-Klans im Film nicht einverstanden. Deshalb wurde als annehmbare Alternative Die Geburt einer Nation von D. W. Griffith gezeigt.
    So viel zu den Lokalnachrichten.
    Gerade als sie in die Union Station in Tampa einfuhren, kam es zu einem Wolkenbruch. Jack hatte noch nie einen mit so schweren Regenwolken verhangenen Himmel gesehen. Der Zug musste rückwärts in den Bahnhof fahren, was zu einer