Kaleidoscope: Kriminalroman (German Edition)
mit den Achseln.
»Ein Freund von mir hat gesagt, ich soll kommen.«
»Sag mal, du bist doch nicht beim Film, oder?«
»Nein, natürlich nicht. Du etwa?«
»Klar, ich habe die ganze Nacht Mary Pickford gevögelt. Deshalb schufte ich mich auch als Gepäckträger am Bahnhof ab.«
»Hast du auch einen Namen?«
»Nenn mich einfach Tommy. Tommy Speck.«
»Jack Romaine.«
Ein Blitz krachte über den Gleisen wie ein Flintenschuss.
»Was zum Teufel …?« Jack duckte sich.
»Mach dir nicht in die Hose.« Der Zwerg zeigte mit dem Daumen über seine knorrige Schulter. »Ich habe einen Lastwagen.«
Sobald der kleine Scheißer seinen Vierteldollar hatte, verlor er jedes Interesse an der Unterhaltung. Jack folgte Speck schweigend die Gleise entlang, als er einen Güterwagen bemerkte, der anscheinend eine Sonderbehandlung erfuhr. Ein Trupp kräftiger Männer in Ölzeug versammelte sich auf dem Bahnsteig und rackerte sich ab, um zwischen Bahnsteig und der gerade geöffneten Tür des Güterwagens eine Art Holzzugbrücke aufzubauen. Eine einzelne Frau dirigierte die emsige Gruppe. Eine große Frau, sehr groß. Sie trug keine Kopfbedeckung. Sie hatte gar keinen Regenschutz an. Ihr Hemdkleid war triefnass; der Baumwollstoff klebte wie eine zweite Haut an ihr. Ein hochgewachsener, fester Körper. Ihr Haar sah aus wie das einer Indianerin, rabenschwarz, glatt und hüftlang.
»Was ist denn da los?« Jack blinzelte sich das Wasser aus den Augen.
»Kommst du?«
»Eine Sekunde.«
Jack formte mit seiner Hutkrempe einen Regenschutz. Ein Blitz strahlte kurz die langhaarige Aufseherin an. Sie winkte jemandem im Waggon zu. Ein Gruß? Ein Befehl? Es blitzte und donnerte wieder und ein vierrädriges Fuhrwerk kam ächzend aus dem Waggon auf die Zugbrücke gefahren. Seitlich an der Kutsche waren Heuballen aufgestapelt, die irgendetwas im Innern verbargen. Nein, irgend jemanden … Jack erkannte jetzt eine menschliche Gestalt, die auf den Heuballen ruhte wie auf Kissen.
»Heiliges Kanonenrohr!«
Sie füllte das ganze Fuhrwerk aus, eine enorme, Falten werfende Fleischmasse. Durch den Regen klebten ihre dunkelblonden Locken an ihrer Stirn, die so breit war wie ein Bottich. Man hätte Reihen von Silberdollars in die Speckfalten an Hals und Armen stecken können. Sie drehte sich gebieterisch um und schaute im strömenden Regen die Gleise entlang. Obwohl sie sehr weit weg war, schien es, als blickte sie Jack direkt in die Augen.
»Prinzessin Peewee«, kam Tommy seiner Frage zuvor.
»Prinzessin Peewee? Tommy Speck? Gott, hat hier unten niemand einen richtigen Namen?«
Dafür hatte Speck nur ein verächtliches Schnauben übrig.
Sieben Männer bemühten sich, das Fuhrwerk auf dem vom Regen rutschigen Gefälle mit Seilen abzubremsen. Als der überdimensionale Karren sicher auf dem Verladebahnsteig stand, fuhr ein schwerer Lastwagen mit ratternden Seitenklappen heran. Ein Riese stieg auf der Beifahrerseite aus, ein gigantischer Neger. Jack konnte nicht genau abschätzen, wie groß er war, aber sein Kopf und seine Schultern ragten über die Kabine des Lasters hinaus.
Mit einer unglaublich langen Kette über der Schulter schlenderte der Riese zum hinteren Teil der Ladefläche. Binnen Sekunden befestigte er die Joche des Fuhrwerks an einem Anker, der behelfsmäßig auf der Ladefläche des Fords montiert war. Dann breitete der Riese eine Plane sanft wie eine Decke über die liegende Monarchin. Eine zärtliche, fast ehrfürchtig fürsorgliche Geste.
Jack kippte Wasser von seiner Hutkrempe in ein silbernes Abflussrohr.
»Kennst du die Leute?«
»Die Frage ist entweder dumm oder gefährlich.«
Gefährlich?
Und dann sprang die Hofdame flink wie ein Reh vom Bahnsteig auf die Ladefläche. Sie beugte sich über die zurückgelehnte Prinzessin, strich ihr langes, rabenschwarzes Haar zurück und drückte ihr einen Kuss auf die breite Stirn.
»Tanzt die auf zwei Hochzeiten? Die, die so fantastisch aussieht?«
»Geht mich nichts an.«
»Hat die auch einen Künstlernamen?« Jack probierte eine andere Tour.
»Luna. Luna Chevreaux.«
» Ma chère lune .«
»Sie ist dein zukünftiger Boss«, sagte Speck.
»Mein Boss? Woher willst du wissen, dass ich Arbeit suche?«
»Jeder, der nach Kaleidoscope kommt, muss arbeiten, Jack, oder wie du heißt. Und wir alle arbeiten für Luna. Wenn du dazu keinen Bock hast … Der Zug fährt in sechs Minuten wieder ab.«
Jack sah die Gleise entlang. Abgesehen von diesen Missgeburten war die Bahnhofshalle
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