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Kaleidoscope: Kriminalroman (German Edition)

Kaleidoscope: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Kaleidoscope: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Darryl Wimberley
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in den Speisesaal gebracht. Es funktionierte nicht besonders gut, denn die abgenutzte Platte mit dem Lied Bye, Bye, Blackbird hüpfte mit dem Zug über die Schienen. Aber ein Schwarm junger Leute ließ sich davon nicht beirren und die Frauen entledigten sich ihrer Berluti-Schuhe und Strümpfe, um Charleston zu tanzen, und nippten an den mit silbernen Griffen versehenen Spazierstöcken ihrer Begleiter. Die Ermahnungen der streng schauenden Schaffner wurden völlig ignoriert. Die Feierwütigen beachteten die Schlafwagenschaffner gar nicht und suchten nach weiteren Rekruten für ihr feuchtfröhliches Vorhaben.
    »Komm schon, Bursche.« Ein Rotschopf mit Eton-Schnitt plumpste in seinen Schoß. »Sei doch nicht so langweilig.«
    Die Party war nicht vorbei, nur weil man verschwitzt im Zug saß. Die verlorene Generation war wild entschlossen, ihren Spaß zu haben, auch wenn es ihnen dadurch elend ging. Aber Jack lehnte die Einladung ab. Er konnte es sich nicht erlauben, sich von so einer Mieze verführen zu lassen. Einen Streit mit einem eifersüchtigen Freund oder Ehemann konnte er jetzt gar nicht gebrauchen. Schwieriger zu ignorieren war, dass überall im Wagen ganz offen Karten gespielt wurde. Das und der Alkohol. Eine Atmosphäre der Versuchung mit Zigarrenrauch, der schwer in der Luft hing, undselbst gemachten Jetons, die zwischen Cognacschwenkern und Bourbon-Collins hin- und hergeschoben wurden.
    Es gab natürlich noch einen anderen Grund, wachsam zu bleiben, und der hieß Becker. Jack bemerkte, wie er sich immer wieder nach ihm umschaute. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn er in seinem Abteil aufgewacht wäre und die böse Fratze des blonden Mörders neben ihm auf dem Kissen gefunden hätte. Der Mann besaß unnatürliche Kräfte und war immun gegen normale Angriffe.
    Des Todes fröhliche Hure.
    Immer wenn Jack einen blonden Mann sah, machte er sich fast in die Hosen, was mit gesundem Menschenverstand nichts mehr zu tun hatte, wie er sich immer wieder sagte. Woher sollte Becker denn überhaupt wissen, dass Jack in diesem Zug war? Und selbst wenn Becker ihn bis in den Pullman verfolgt hätte, der Drecksack wäre Jack doch mittlerweile mit Sicherheit ins Auge gestochen.
    Warum sah sich Jack dann immer wieder um?
    In Atlanta wurden die Waggons an eine andere Lokomotive angekuppelt und es ging mit der Central of Georgia Railway weiter, bis der Zug nach Mitternacht Albany erreichte, wo die Atlantic Coastline Railroad übernahm, deren 467-Lok Jack tief in den Sunshine State entführte, mit über hundert, manchmal hundertdreißig Stundenkilometern vorbei an vollkommen unbekannten Kleinstädten mit Namen wie Monticello und Perry; Live Oak und Hampton und Ocala; Wildwood und Coleman. Jack öffnete seine Brieftasche, in der zwei Fotos steckten. Eins von seinem Sohn Martin. Das andere von Gilette. Sie posierte steif mit zwei anderen Krankenschwestern in weißen Uniformen und Hauben. Er hatte noch andere Fotos, aber dieses war sein erstes von ihr und sein allerliebstes. Als er so im Speisewagen saß und über seine Schulter schaute, fragte sich Jack, wie wohl alles gekommen wäre, wenn seine Frau noch leben würde. Wäre er immer noch ein Familienmensch? Wäre er in New York geblieben und hätte in einer Gießerei oder im Hafen oder vielleicht als Schuhverkäufer in der Innenstadt gearbeitet?
    Das Foto war in Frankreich gemacht worden, in einem Lazarett in Tannerie. Gemeinsam mit vierzigtausend anderen Patrioten, Wehrpflichtigen und Leuten, die sich etwas beweisen wollten, hatte Jack seinen Dienst in Camp Upton in New York angetreten. Die 77. Division wurde mit Schiffen, Zügen und sogar zu Pferd in die Schützengräben geschickt, die kreuz und quer die Landschaft durchzogen, die Napoleon einst beherrscht hatte. Die Division hatte fast einen Monat lang eine stark befestigte Stellung der Boches in der Region Oise-Aisne beschossen. Zehntausende Männer hatten in diesem Gefecht ihr Leben verloren. Gilette war einer französischen Erste-Hilfe-Station in Tannerie hinter den Linien zugeteilt worden. Man hatte zu diesem Zweck eine Kirche umgebaut. Die Wände waren von deutschen Geschützen durchlöchert und ein Teil des Dachs zerstört, aber die Jungfrau im Innern, Ruhe und Gleichmut in Marmor, hatte keinen Schaden erlitten. Solche Geschichten hörte man überall in Frankreich, dass die deutschen Waffen den Heiligen- und Marienstatuen nichts anhaben konnten. Unter den ausgebreiteten Händen der Gottesmutter hatte Jack die

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