Kaleidoscope: Kriminalroman (German Edition)
ich abfahre?«
»Wir brauchen alles. Ständig.«
Der Araber starb kurz nach dieser ersten Begegnung. Gilette wusste nicht, was sie mit seinen Sachen machen sollte. Normalerweise gab es eine Adresse, einen nächsten Angehörigen. Aber für den Araber lediglich eine Kiste und ein Loch im Boden.
»Diese Auszeichnung hat ihm schrecklich viel bedeutet«, bemerkte Jack. »Vielleicht sollten Sie ihm den Orden mit ins Grab legen.«
»Nein.« Sie schüttelte traurig den Kopf. »Er dachte, er würde ihn am Leben halten. Zum Ende hin, als er es besser wusste, wollte er, dass ich den Orden an mich nehme.«
»Wofür hat er ihn gekriegt?«
»Verwundete, die bekommen so einen.«
Er sah Gilette vielleicht ein halbes Dutzend Mal auf ihrer Krankenstation, immer wenn er mit Nachschub kam. Sie war aus der Gegend, wie sich herausstellte. Das Lazarett konnte sie von zu Hause aus mit dem Fahrrad erreichen. »Wen würden Sie lieber heiraten«, las er in der zerfledderten Ausgabe des Spiker ; »einen Franzosen oder einen Amerikaner?«
»Einen Franzosen«, antwortete sie, ohne zu zögern. »Die essen nicht so viel.«
Kurz bevor die 77. Division weiterzog, fuhr er mit der statthaften Entschuldigung, einen verletzten Kameraden zu besuchen, noch einmal zum Lazarett. Anstatt Bettlaken oder Morphin brachte er Schokolade mit. Dann versprach er Gilette, dass sie sich wiedersehen würden, wenn, wie er sich ausdrückte, diese Sache erledigt war. Sie schien überrascht, sogar ein wenig amüsiert, als er einen Monat nach Versailles vor ihrem Schäferhaus stand. Ein Häuschen aus Holz und Schindeln. Ein kleiner Weingarten. Ziegen und Schafe. In dieser neuen Umgebung wirkte sie ganz anders, von einer kompetenten Führungspersönlichkeit zur Magd reduziert. Er konnte ihr New York bieten; und nach nur kurzem Zögern sagte sie, er solle mit ihren Eltern reden. Sie heirateten in derselben Kirche, in der sie sich während des Krieges abgeschuftet hatte, und verbrachten die Flitterwochen auf dem Schiff nach Amerika. Kaum ein Jahr später erwarteten sie ein Kind, und dann kam die fürchterliche Epidemie. Gilette pflegte sich bis zum Schluss selbst.
»Du bist ein schrecklicher Pfleger, mon cher .«
»Wieso das denn?«
»Du kümmerst dich zu viel.«
Sie reichte hinüber zum Nachttisch und holte den Orden des Arabers an seinem Band hervor.
»Das Insigne des blessés militaires .« Sie drückte es ihm in die Hand. »Um uns an unsere Wunden zu erinnern.«
Das Foto glitt aus seinen Fingern auf den Hartholztisch des Speisewagens. Jacks Hand wanderte zu dem Messingabzeichen, das noch an seinem Revers heftete. Er sah sich um. Der Waggon war fast leer. Gott, war es schon so spät? Jack sah auf seine Uhr, bevor er Gilettes Foto unter das seines Sohns schob. Dann legte er einen Dollar für den Steward hin und verließ den Speisewagen.
Jack Romaine fiel voll bekleidet auf die enge Koje seines Abteils. Die heiteren Stimmen der Flittchen und ihrer Begleiter wurden vom mächtigen Rumpeln der Eisenräder auf Eisenschienen erstickt. Der Waggon schwankte. Schaukle hin und schaukle her … Er musste sich nur ein bisschen ausruhen, sagte er sich. Nur ein bisschen …
Ein smaragdgrünes Außenfeld umrahmt ein makellos gepflegtes Spielfeld. Jack sieht, wie sein Sohn über der Home Plate seinen Schläger anhebt. Ein Junge des Sommers in scharlachrot abgesetzter Spielkleidung. Weiches Haar schaut unter seiner Wollmütze hervor. Martin winkt seinem Dad zu; Jack lächelt ihn stolz an. Der Catcher hat seine Maske auf; Jack kann sein Gesicht hinter den Metallstäben nicht sehen. Aber er erkennt die Hände, mit denen er dem Pitcher ein Zeichen gibt. Die Hände sind riesig. Deformiert. Und als Jack wie gelähmt auf der Tribüne am linken Feld steht, sieht er, wie der Pitcher mit seinem Wind-up beginnt. Ein Sportler, das steht fest. Ein kräftiger Mann. Haut und Haare blass wie gebleichte Knochen.
Arno Becker schleudert einen Fastball direkt auf den Kopf des Schlagmanns zu.
»Martin! MARTIN!«
Jack versucht, seinen Sohn zu warnen. Aber es kommt kein Ton, keine Luft in den Lungen, nichts, um seine Stimmbänder in Schwingung zu versetzen, als der Ball in Zeitlupe auf den makellosen, schönen Jungen auf der Home Plate zufliegt …
»Eine Stunde bis TAMPA. Alle Fahrgäste nach TAMPA …«
Ein Schaffner scheuchte die Reisenden aus ihren Träumen auf. Jack stand taumelnd auf und spritzte sich Wasser aus dem Waschbecken ins Gesicht. Er zog sich ein frisches Hemd an und ging in
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