Kaleidoscope: Kriminalroman (German Edition)
haben, mein Junge.« Flambé kam rüber, um ihm auf die Schulter zu klopfen, und damit erhoben sich auch die anderen Artisten, um ihrem endlich akzeptierten Arbeiter mit Händen, Flossen oder anderen deformierten Gliedmaßen ebenfalls auf die Schulter zu klopfen.
»Setz dich, Jack.« Das kam von Half Track.
Jack holte einen Vierteldollar raus.
Sie schob die Münze weg.
»Nicht heute Morgen.«
Für kurze Zeit ließ sich Jack von der freundlichen Stimmung in der Kantine mitreißen. Er musste die Qualen der Zwillinge und seine Rolle in der Sache haargenau beschreiben. Ab und zu fiel ihm Tommy ins Wort und nach seinem Bericht hätte man meinen können, dass das Wechseln von Verbänden und Leeren der Bettpfanne mit Gehirnchirurgie gleichzusetzen war. Oliver Bladehorn und Arno Becker waren fast vergessen. Die Angst um seine Familie, das Damoklesschwert, das über seinem Sohn und Mamere hing, war beinah gebannt. Jack konnte sogar für eine Sekunde den Gedanken an die Wahrheit unterdrücken, nämlich dass er, während diese Leute ihm vertrauten und er sich in ihrem Lob sonnte, ein Schwindler war, ein gemeiner Dieb.
Seine Freude würde nicht ewig anhalten.
Und tatsächlich, als Jack seine kostenlosen Eier mit Speck und Maisgrütze verschlang und zwei, drei Tassen Kaffee trank, machte sich in seinem Innern das Gefühl breit, dass seine Sünden zu schwerwiegend waren, um von irgendeiner Art Taufe hinweggewaschen zu werden. Denn, was die Schausteller auch denken mochten, er wusste doch, dass er ein Judas war. Er war mit dreißig Silberlingen hierher geschickt worden, nicht etwa, um diese Leute zu retten, sondern um sie auszunutzen, sie zu benutzen.
Einen Moment lang hatte er den überwältigenden Drang auszupacken, der versammelten Gemeinde zu gestehen, dass er nur gekommen war, um sie zu bespitzeln und zu beklauen; dass er sie im Namen eines kaltblütigen Gangsters aus Cincinnati reinlegen wollte.
Aber angenommen, er gestand? Angenommen, er überließ sich Lunas Gnade und der ihrer Kumpane? Was dann? Verrat war in den Augen der Freaks sicher ein viel schwereres Vergehen als ein Bagatelldiebstahl. Würde die Rache an ihm nicht noch viel fürchterlicher ausfallen als die an Charlie Blade? Und warum sollte Jack Gnade erwarten?
Jack verließ das Café und versuchte, den Stein in seiner Magengrube zu ignorieren. Er beschloss, Luna aus dem Weg zu gehen. Lieber Scheiße schaufeln, als sich in einem heiklen Moment selbst zu entlarven. Aber Luna machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Sie stand gerade mit Giant vor ihrer Wohnung und unterbrach ihr Gespräch, um ihn anzusprechen.
»Jack, hast du schon was gegessen?«
»Äh, ja, gerade.«
»Warte. Ich komme mit.«
Giant eilte davon zu irgendeiner Arbeit und Luna schlenderte zu Jack hinüber.
»Ich will runter zum Fluss. Kommst du mit?«
»Da frage ich besser erst Tommy.«
»Tommy hat heute frei. Und du auch.«
Sie ließen das Café und Lunas Wohnung hinter sich und gingen eine Sandpiste entlang, die am Telegrafenbüro mit seiner einsackenden Markise vorbeiführte. Sie machte keine Andeutungen, was sie vorhatte. Es gab keine Erklärung. Sie verließen die Piste und nahmen einen schmalen, gewundenen Pfad, umgeben von dicht stehenden Kiefern und Zypressen und überwuchert von Brombeerranken und anderem Gestrüpp. Abgesehen von einerlaunischen Brise war es ein stiller Morgen. Jack beobachtete das Spiel von Lunas Rückenmuskeln, als sie vor ihm herging. Den Schwung ihrer Hüften in der abgeschnittenen Hose. Bei jedem Schritt schienen ihre Beine am gesamten Körper Drähte zu ziehen. Er beobachtete, wie die kleinen Muskeln an ihrem Rückgrat sich bei jedem Schritt zusammenzogen und entspannten, und ihre himmelblaue Haut wirkte im gefilterten Licht des Waldes weicher als sonst. Ihr ungekämmtes, rabenschwarzes Haar wogte hin und her. Ohne anzuhalten, pflückte sie eine Handvoll Beeren von einer niedrig hängenden Ranke. Er versuchte, es ihr nachzutun, und griff in die Dornen. Sie lachte. Der Weg endete an einer verrotteten Holzkonstruktion, die wohl mal ein Bootssteg gewesen war. Daran war ein Boot festgemacht, das dringend einen neuen Anstrich brauchte. Ein Motorboot, wie Jack auffiel.
»Ich sehe mal nach, ob Sprit da ist.« Sie prüfte den Vierlitertank, pumpte Treibstoff in den Vergaser des angejahrten Gebhardt-Motors und kurz darauf fuhren sie den Alafia hinunter.
Luna setzte sich an die Ruderpinne und Jack lehnte sich gegen eine Köderkiste in der Mitte des Boots.
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