Kaleidoscope: Kriminalroman (German Edition)
Sobald die Strömung es erlaubte, stellte die Mondfrau den Innenbordmotor ab, und sie trieben still dahin. Ein dünner Nebelschleier hing wie eine Waise an der spiegelglatten Wasseroberfläche. Reiher durchwateten den Fluss auf der Suche nach ihrem Frühstück. »Sieh mal.« Luna streckte ihren Finger aus und Jack sah das v-förmige Kielwasser eines Alligators, der nach Barschen und unvorsichtigen Vögeln Ausschau hielt.
Selbst im Nebel konnte man sehen, dass das Wasser kristallklar und sauber war. Es gab keine Anzeichen menschlichen Lebens, weder auf dem Wasser noch am Ufer, kein Haus, keinen Hof, kein Lager. An diesem Morgen waren nicht einmal Angler unterwegs. Aber es gab jede Menge Fisch: Forellenbarsche lagen unter umgestürzten Zypressen oder zwischen den Wurzeln von Wassereichen auf der Lauer. Im tiefen Schatten warteten sie begierig darauf, dassein Wasserläufer, eine Motte die Wasseroberfläche kräuselte. Oder irgendeine andere Kreatur. Wie sie so untätig dasaßen, zündete Jack sich eine Zigarette an, denn er schmachtete danach. Als er den Rauch einsog, kam plötzlich ein Wasserstrahl aus dem Fluss emporgeschossen, der ihn und seine Zigarette nass spritzte.
»Was war das denn?« Jack starrte den schlaffen Stummel in seiner Hand an.
»Ein Schützenfisch.« Luna lächelte und warf ihm einen Lappen zu. »Die können Insekten aus anderthalb Metern Entfernung abschießen. Und Zigaretten anscheinend auch.«
Außer spuckenden Fischen und Alligatoren gab es noch weitere Gefahren. Luna nahm sich ein Ruder und stieß die Wurzel einer Zypresse weg, die wie das Horn eines Nashorns direkt unter der Wasseroberfläche lauerte. Die Wurzeln könnten dem Boot ein böses Leck reißen, sagte sie. Er solle seine Augen offen halten.
Kein unangenehmer Zeitvertreib, das musste Jack zugeben. Nach kurzer Zeit ließ Luna den Innenbordmotor wieder an. Die zwei Zylinder pumpten – tackatackatack – und verbreiteten Benzingeruch. Die Kolben hämmerten nicht sehr heftig und der Bug des Boots ragte kaum aus dem Wasser. Trotzdem musste sich Jack weit hinausbeugen, um mit der Hand das Wasser zu berühren. Kein Geräusch außer dem gedämpften Bootsauspuff. Ein Schwarm Stockenten sauste lautlos und flach über dem Wasser vorbei wie ein Fluggeschwader. Sie hatten gerade eine prächtige Trauerweide umflogen, als plötzlich ein heiserer Schrei zu hören war.
»Ein Fischadler.« Luna deutete mit dem Kopf nach steuerbord und Jack sah tatsächlich einen Raubvogel so groß wie ein Bussard, der auf einer kahlen Zypresse am Ufer saß und sein Gefieder putzte.
»Die fressen hauptsächlich Fisch.« Luna sprach über das Motorengeräusch hinweg. »Aber auch Schildkröten. Ich habe einmal gesehen, wie ein Fischadler eine Schildkröte geschnappt und aus dreißig Metern Höhe hat fallen lassen. Der Panzer ist zerbrochen wie ein Ei!«
»Das hier wäre was für meinen Sohn«, rief Jack zurück.
»Deinen Sohn?«
Sie stellte den Motor aus und das Boot trieb wieder in der Strömung.
»Du hast einen Sohn?«
»In Chicago. Da sind er und meine Mamere. Meine Frau war Französin. Gilette. Ich habe sie im Krieg kennengelernt. Sie hat die Deutschen und das Gas und das Geschützfeuer überlebt, nur um hier drüben an der verdammten Grippe zu sterben. Deshalb ziehe ich Martin groß. Mit seiner Großmutter zusammen.«
»Ist er ein guter Junge?«
»Total amerikanisch. Baseball und Helden wie Babe Ruth und wen es sonst noch zu bewundern gibt. Außer seinem Vater. Ich bin keiner von seinen Helden.«
»Väter müssen keine Helden sein.«
»Nein?«
»Nein, sie müssen nur Väter sein.«
»Ich versage in beidem.«
Wolkenstreifen sabotierten plötzlich die wärmenden Sonnenstrahlen und der Fluss wurde dunkel, kalt und jadegrün.
»In dem Haus, das gleich kommt, hat auch mal ein Mann mit einem Kind gewohnt.« Luna drehte am Schwungrad, um den Motor anzulassen. »Wenn du es sehen möchtest …«
»Klar.«
Sie lehnte sich gegen die Pinne, lenkte ihren flachen Kahn zur anderen Seite des Flusses und fuhr dann noch ein kurzes Stück flussabwärts. Dann drosselte sie abrupt den Motor.
»Da. Da drüben.«
Jack beschattete seine Augen mit der Hand. Auf einer Landzunge sah er ein seltsames Eisenskelett.
»Was ist das? Ein Käfig?«
»Ja, ein Käfig.« Sie wickelte ein Tau ab. »Aber nicht für Tiere.«
Sie machten das Boot fest und sprangen ans schlammige Ufer. Jack versank bis zu den Knöcheln im Morast. Der kuppelförmige Käfig hatte eine Höhe und einen
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