Kaleidoscope: Kriminalroman (German Edition)
so treu ergeben waren.
Er jonglierte auf Stelzen und sie trat von den Zuschauerbänken auf. Sie sind dreimal am Tag aufgetreten und haben trotzdem Zeit gefunden, mir das Jonglieren beizubringen.«
Luna nahm drei Orangen vom Nachttisch und sofort flogen die süßsaftigen Kugeln in komplizierten Variationen umeinander und schienen der Schwerkraft zu trotzen.
Dann ließ sie die Früchte zeitgleich aufs Bett plumpsen.
»Mike war stark wie ein Ochse, aber Milly war immer kränklich. Sie hatte es an den Lungen, das wusste jeder, aber sie wollte nicht aufhören. Sie wollte auch nicht, dass Mike aufhörte. Also haben wir uns auf den Weg nach Toledo gemacht, wo wir Donnerstagabend aufmachen sollten. Mike stand in seiner Schaubude. Er ließ Feuerstäbe, Bälle und falsche Ambosse durch die Luft fliegen. Milly hat ihm die Stichwörter für seine Gags geliefert. Die Bauern haben sich krumm und schief gelacht. Es war ziemlich anstrengend und ich weiß noch, wie ich irgendwann zu Mr. Wortham gesagt habe: ›Ich glaube, Milly wird immer langsamer.‹
Na ja, sie wurde nicht einfach nur langsamer, sie war kurz davor abzunippeln. Sie war schon ziemlich wacklig auf den Beinen. Mike jonglierte gerade mit vier brennenden Feuerstäben gleichzeitig. Und plötzlich brach sie zusammen. Vor versammeltem Publikum.
Mike sprang von den Stelzen. Er war sofort bei ihr und hielt sie in den Armen. Sie rührte sich nicht. Er redete auf sie ein, abersie reagierte nicht. Da hast du’s: Mann und Frau. Mike und Milly mit ihren geschminkten Clowngesichtern. Man konnte förmlich hören, wie die Leute die Luft einsogen und sich fragten, was los war.
Stimmt irgendwas nicht? Oder gehört das zur Nummer? Also wie würdest du reagieren, Jack? Wenn es deine Frau wäre, was würdest du machen?«
Sie wartete seine Antwort nicht ab.
»Mike setzt einfach sein komischstes Gesicht auf, nimmt Milly und trägt sie Richtung Vorhang, aber bevor er verschwindet – und ich konnte sehen, wie ihm die Tränen durch die Schminke liefen –, da dreht er sich noch mal um, lächelt breit ins Publikum und nimmt Millys Hand, um den Leuten zuzuwinken.
Als wenn nichts passiert wäre. Nur damit die Bauern denken, das würde zur Nummer gehören.«
Luna sammelte die Orangen auf und legte sie wieder in die Schüssel.
»Nur ein Schausteller kann verstehen, wie viel Liebe und Treue es braucht, um so etwas fertigzubringen. Siehst du, Jack, ein richtiger Schausteller, der weiß, wann er einen anderen richtigen Schausteller vor sich hat.«
Sie legte sein Rasiermesser neben die Orangen. Der Mond schien durch die dünnen Vorhänge.
»Leg dich hin.«
Sie setzte sich auf ihn und zog sich in einem Ruck die Bluse über den Kopf. Ihr onyxschwarzes Haar fiel auf ihre wunderbare Mondhaut herab.
In der Mitte ihres Bauchs verlief eine Vertiefung. Ihre Brüste schimmerten dunkel im Licht des Pfirsichmonds. Sachte griff sie nach seinen Hemdsknöpfen.
Jack wehrte sie ab.
»Nicht jetzt.«
Falls sie beleidigt oder verletzt oder auch nur verwirrt war, ließ sie es sich nicht anmerken. Sie beharrte nicht. Sie verlangte keine Erklärung und dafür war Jack dankbar.
Er wusste nicht, was in diesem verrückten Kaleidoskop echt war und was nicht. Und selbst wenn Jack glaubte, dass Luna tatsächlich über die entstellenden Blasen und Nähte hinwegsehen konnte, so gab es da noch eine andere Angst, die tiefer saß, etwas noch Beunruhigenderes …
Jack wusste, dass Luna ihm nicht vertrauen konnte.
Wie konnte er ihr da vertrauen?
Ihr Liebesspiel, ihre zärtliche Fürsorge … War das alles echt? Oder war Lunas Zuwendung nur gespielt, vorgetäuscht und geschwindelt? Jack konnte nicht vergessen, was er da auf der Straßeunter seinem Fenster gesehen hatte. War da ehrlich verdientes Geld in dieser Ledertasche oder stammte es von einem Griff in Bladehorns Topf? Es gab zu viele Geheimnisse, um Vertrauen aufkommen zu lassen, Taschen, übergeben in tiefster Nacht, Treffen in dunklen Gassen und hell erleuchteten Luxushotels … Und sie konnte so unbarmherzig sein, davon konnte Charlie Blade ein Lied singen.
Jack begehrte Luna. Er wollte sich wieder in der Ekstase verlieren, die er schon einmal in ihren kräftigen Armen erlebt hatte, die er noch einmal erleben wollte oder hundertmal oder auf immer und ewig. Er wollte den Schraubstock ihrer Schenkel um seine Hüften spüren. Aber bevor das möglich war, musste er ihr vertrauen können. Er musste wenigstens noch ein weiteres Teil des Puzzles
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