Kaleidoscope: Kriminalroman (German Edition)
entfernte sich von der Fensterbank, aber wartete, bis er Luna die Treppe hinaufgehen hörte, bevor er wieder zu seinem Krankenbett zurückhumpelte und so tat, als würde er schlafen.
Er hörte Luna ins Zimmer tapsen. Er hörte, wie sie am Fußende des Betts innehielt, bevor sie zum Fenster ging. Sie goss sich ein Glas Wasser aus dem Krug ein. Er konnte das Eis klirren hören.
War da ein leichtes Zögern, als sie trank?
Ein kurzes Zaudern?
Sie ging und nahm den Krug mit. Als die Tür schließlich ins Schloss fiel, starrte Jack sein Kissen an. Wie viele nächtliche Treffen in Lunas Wohnung hatte es gegeben, seit er nach Kaleidoscope gekommen war? Wie viele Hotelrendezvous? Jack hätte zu gern gewusst, was diese Tasche schon alles gesehen hatte, aber aus irgendeinem Grund musste er ständig an den Hut des Manns denken.
Irgendwas war damit … Aber was nur?
Es war ein ganz normaler Deckel, kreisförmig, mit breitem Band und schmaler Krempe. Diese Art Hut trug man vor allem bei Bootsfahrten. Perfekt für die Affenhitze im Sommer, denn Stroh war luftdurchlässig. Und dann musste Jack an Cincinnati und das Milner Hotel denken. Der Mann, der das Geld und die Zugfahrkarte für Sally Price abgegeben hatte, hatte einen Strohhut getragen. Das wusste er von dem Pagen. Außerdem eine grelle Jacke, ein billiges Hemd und schlabbrige Hosen. Aber das Entscheidende war die auffällige Blume, denn nicht viele Männer stecken sich Orchideen an den Hut.
Vor allem keiner, der unerkannt bleiben will.
Je länger Jack darüber nachdachte, desto fester glaubte er daran, dass Lunas Freund mit der Tasche Alex Goodmans Stellvertreter war, die Verbindung zwischen Kaleidoscope und Sally Price. Aber welche Rolle dieser Mann auch spielen mochte, Jack war sicher, dass Luna das Sagen hatte. Jack war mittlerweile überzeugt, dass Luna Chevreaux Bladehorns Geld und Wertpapiere hatte, auch wenn sie mit dem Diebstahl selbst nichts zu tun hatte. Um so viel Zaster zu verstecken, brauchte man allerdings eine Menge Matratzen. Terrence Dobbs’ juristischer Sachverstand konnte da von Nutzen sein. Vielleicht hatte der Mann mit der Tasche Dobbs’ Rolle übernommen. War er vielleicht nicht nur Lunas neuer Bestecher, sondern auch ihr Stecher?
Es klopfte leise und Jack drehte sich zur Tür, wo ein Mann in weißem Kittel stand.
»Sie sollten schlafen.«
Doc Snyder runzelte missbilligend die Stirn.
»Ich konnte nicht«, redete Jack sich heraus.
»Dann kann ich mir auch Ihren Verband ansehen.«
Der Arzt setzte sich, um langsam und methodisch die blutverschmierten Stofffetzen von Jacks Fuß zu entfernen.
»Das haben Sie raus, Doc.«
»Da spricht das Morphin.«
»Wo sind Sie praktisch ausgebildet worden? Im Krieg?«
»Nein, nein, an der Tulane-Universität.«
»Ich war Sani. Habe ich das schon erzählt?«
»Ja, Jack.« Doc klebte den Verband mit Pflaster ab. Es roch nach frischen Bandagen und Desinfektionsmittel. »Nun hören Sie auf zu quasseln und ruhen Sie sich aus.«
Doc schaltete die Nachttischlampe aus und verließ das Zimmer, aber Jack konnte nicht schlafen. Er wusste, dass er nah dran war, Bladehorns Vermögen zu finden, sehr nah dran.
Aber Arno Becker auch.
HighWire erwachte aus seinem tiefen Schlaf, als eine leichte Erschütterung seinen immer wiederkehrenden Traum unterbrach. Der Schlaf hatte ihn nach Milwaukee entführt. Es war ein schöner Frühlingstag. Seine Frau und seine Tochter standen unten und lächelten für die Bauern ein gekünsteltes Lächeln, als der junge, athletische Artist seine Zehen ausstreckte, um das Drahtseil zu umklammern, das zwischen seiner Plattform hoch über dem Deck eines Schleppkahns und einem an Land errichteten Turm gespannt war.
Tausende hatten sich am Seeufer versammelt, ein tolles Publikum. Aber der Wind machte Probleme. Der Wind erzeugte Wellen, die das Boot zum Schaukeln brachten, und HighWire merkte, wie eine Oberschwingung entstand, diese von Hochseilartisten so gefürchtete rhythmische Wellenbewegung. Er versuchte, leichten Gegendruck zu erzeugen, machte nur einen kleinen Sprung, um die gefährliche Schwingung zu dämpfen, und versuchte, mit dem Stab sein Gleichgewicht zu halten. Aber es reichte nicht.
Von Wind und Wasser angepeitscht, vibrierte und wankte das Seil und HighWire war immer noch über dem Kahn. Das Seil schwang und schwang immer mehr …! Der Stab begann zu schlingern und HighWire spürte, wie er …
»… Aufwachen, HighWire. Wach auf, alter Knabe.«
Der behinderte Artist
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