Kaleidoscope: Kriminalroman (German Edition)
übergezogen.«
»Aber warum, Jack? Warum tut er so was nur?
»Nicht jetzt.« Doc zog eine Flüssigkeit von einer Phiole auf eine Spritze. Jack wusste, es war Morphin.
»Das dürfte Ihnen Linderung verschaffen«, versicherte Snyder seinem Patienten.
»Wer kommt dafür auf?« Jack versuchte zu lächeln.
»Das geht auf mich«, sagte Luna.
Ihre Brüste drückten gegen seinen bloßen Oberkörper, nur eine dünne Baumwollbluse dazwischen. Sie küsste ihn. Es war ein richtiger Kuss, mitten auf den Mund. Nicht seitlich. Nicht auf die Wange gehaucht. Ein Schmatz direkt mitten auf das, was von seinen Lippen noch übrig war.
»Jetzt haben wir’s gleich.« Doc klopfte auf eine Vene.
Ein Alkoholtupfer, kühl auf der Haut. Ein kleiner Stich. Und Luna erhob sich, blau wie der Mitternachtsmond.
»Nacht, Jack.«
Spätnachts wachte er auf, verwirrt und orientierungslos in Lunas großem, weichem Bett. Der Fuß brachte die Erinnerung zurück.
»Verdammt …!«
Jack brauchte eine Minute, um sich zu zurechtzufinden. Luna hatte auf dem Nachttisch eine Lampe brennen lassen, was ihm half. Eine willkommene Brise wehte vom Golf her durch das halb hochgeschobene Fenster. Ein Unwetter schien sich anzukündigen. Jacks Lippen waren aufgeplatzt wie Erbsenschoten. Er sah den eiskalt beschlagenen Krug am Fenster. Ein griffbereites Glas.
»Zimmerservice?«, scherzte er schwächlich, aber es war niemand da.
Er sah eine Glocke in Reichweite auf dem Nachttisch. Ächzend streckte er sich danach aus.
»Doc?«
Es war ihm peinlich, mit der Glocke zu klingeln, aber auf sein Rufen hatte niemand reagiert. Er versucht es noch einmal.
»Na gut.«
Er stand mit dem gesunden Fuß zuerst auf und ließ den verletzten folgen. Fast wäre er ohnmächtig geworden.
»HERRGOTT!«
Das Blut schoss in seine Zehenstummeln.
»Ich könnte noch einen Schuss vertragen«, krächzte er, ohne eine Antwort zu erhalten.
Wo waren die verdammten Sanitäter, wenn man sie brauchte?
Nur gut, dass am Nachttisch ein Paar Krücken lehnte. Jack griff sie sich, schleppte sich Richtung Fenster, wo der Wasserkrug stand, und erheischte im Spiegel eines Schminktischs einen Blick auf sich selbst.
Irgendein Mann oder die Ruine eines Mannes starrte ihn aus der Quecksilberscheibe an. Ein fremdes Gesicht, aufgeplatzt wie ein Kürbis. Die Nase geschwollen und gebrochen. Und dann der Rest …! Ein tiefer Schnitt, der von Wange zu Wange verlief, war wie der Saum eines Baseballs vernäht worden. Die Naht zerrte seine Oberlippe hoch und legte sein Zahnfleisch bloß, rund um die Zahnwurzeln blank und rosa.
Jack hob zitternd eine Hand, um die unnatürlich auseinandergezerrten Lippen zu betasten. Er versuchte, zu lächeln. Doc hatte sein Bestes getan, aber dies war ganz sicher kein Filmstargesicht. Höchstens an der Seite von Lon Chaney.
Undeutliches Gemurmel drang durchs Fenster von der Straße herauf. Jemand stand draußen und redete. Jack wandte sich vom Spiegel ab, um die Lampe an seinem Bett auszuschalten. Als er zum Fenster humpelte, pochte der Schmerz in seinem Fuß mit jedem Herzschlag aufs Neue.
Er konnte das Dach des Western-Union-Büros auf der anderen Straßenseite sehen und davor die kreuzförmigen Umrisse des Telegraphenmasts. Der Draht schwang in einer aufkommenden Brise hin und her, die die Gesprächsfetzen von der Straße schwerer verständlich machte.
Die Stimmen waren direkt unter seinem Fenster. Vorsichtig legte Jack seinen Kopf auf die Fensterbank. Er riskierte einen Blick …
Luna Chevreaux stand direkt vor ihrer Tür und sprach leise mit einer anderen Person, die Jack nicht sehen konnte. Wegen des Windes, der jetzt so stark war, dass ihre Haare hochwehten, trug sie eine Jacke und eine lange Hose. Dann sah Jack eine Ledertasche in einer ausgestreckten Hand, die in einem Handschuh steckte. Luna nahm die Tasche an sich und die andere Person trat vom Schatten in das Mondlicht der wolkenlosen Nacht. Den Bewegungen nach ein Mann. Durchschnittlich groß und schwer. Eine leichte, weite Hose, die Jack bekannt vorkam, und eine Jacke, die zu einem Zigeuner gepasst hätte. Keine Weste. Offener Hemdskragen. Jack konnte das Gesicht nicht sehen, denn von seinem Aussichtspunkt aus blickte er fast senkrecht auf den Hut des Mannes. Es war ein Strohhut mit flacher Krempe und anscheinend einer Orchidee im Band.
Das Treffen war offensichtlich vorüber. Luna nahm die Tasche, und der Mann mit dem Strohhut verschwand wie ein Zauberkünstler ganz plötzlich in der Dunkelheit. Jack
Weitere Kostenlose Bücher