Kalendarium des Todes - Mord am Hellweg VI
genau das macht uns das Leben zur Hölle, dass wir leben müssen mit unserer Schuld.
Als ich die Kerze anzündete gestern Abend, dachte ich noch: Bald bist du erlöst!
Welch ein Irrtum.
Wie lange so ein Kerzenstummel brennt, das hatten wir gelernt in den schlechten Zeiten in Sohrau, das jetzt Ż ory heißt. Wenn ich den Deckel über der Flamme zuklappte, würde sie in zehn, höchstens fünfzehn Minuten so weit heruntergebrannt sein, dass sie die Zündschnur erreicht hätte.
Der Platz vor der Trinkhalle war menschenleer, nur die Gestalten auf den Wahlplakaten an der Litfaßsäule – Kommunisten, Nazis, Sozis, Zentrum, alle traut vereint – schauten mir zu, als ich die Holzkiste schloss und an die Wand schob, direkt unter die Latten, an denen Jakubik tagsüber seine Zeitungen aushängte. Nur Kommunistenblätter, Die rote Fahne und so ’n Zeug. Jakubiks Bierangebot war vielseitiger.
Die Kiste fiel nicht weiter auf neben dem Büdchen, niemand würde auf die Idee kommen, dass in ihr eine Kerze brannte, geschützt vor dem Wind und neugierigen Blicken. Es war ohnehin kein Mensch unterwegs, die Kolonie lag ruhig und wie ausgestorben, alle standen sie beim Osterfeuer auf der großen Wiese am Bahndamm.
Niemand wusste, dass ich in die Kolonie zurückgegangen war, ich hatte Onkel Günter gesagt, mal eben pinkeln zu müssen, als ich die Wiese runter bin zu den Bäumen. Niemand hatte mich gesehen, wie ich über den Bach gesprungen, über den Bahndamm gekraxelt und zur Kolonie hinübergelaufen bin.
Alles war vorbereitet, ich musste nur die präparierte Kiste aus ihrem Versteck holen und die Kerze anzünden. Der leere Benzolkanister stand bereits in Wawerkas Mietshaus unter der Treppe, fehlte nur noch die zerknüllte Zigarettenpackung, die ich unweit des Büdchens fallen lassen wollte, damit es aussah, als habe er sie dort verloren.
Wawerka, das Schwein!
An manchen Tagen hatte ich mir nichts sehnlicher als seinen Tod gewünscht. Mir vorgestellt, wie sein Kopf zwischen zwei Grubenwagen zerquetscht wurde. Wie er neben den Korb trat und in den Schacht stürzte. Wie die Zigarette, die er sich immer anzündete, obwohl das unter Tage strengenstens verboten war, ein Schlagwetter auslöste und er vom heißen Atem des Berges durch die Strecke gefegt wurde.
In der Wirklichkeit traute ich mich nicht einmal nachzuhelfen, wenn die Gelegenheit günstig war, wenn Wawerka zu dicht bei den Gleisen stand oder zu nah am Blindschacht.
Dass mit den Zigaretten nie etwas passiert war, wunderte mich selbst, bei all dem Kohlenstaub in der Luft und dem Methan. Irgendwann wurde mir klar, dass Wawerka auch das nur tat, um mir Angst einzujagen. Die aufgerauchten Kippen fummelte er immer in die Zigarettenpackung zurück. Und mir gab er den Auftrag, die zerknüllte Schachtel mit den Kippen wieder über Tage zu bringen. Und mich dabei ja nicht erwischen zu lassen.
»Wenn du dem Steiger was sagst, Polack, bist du mein nächster Aschenbecher, kapiert?«
Ich nickte stumm und gehorchte. Dabei war der Gedanke, dass Wawerka auf die Idee kommen könnte, seine Zigaretten auf meiner Haut auszudrücken, nicht einmal das Schlimmste, was ich mir vorstellen konnte. Seit ich ihm das erste Mal begegnet war, hat er mir das Leben zur Hölle gemacht.
Ich war das erste Mal unter Tage damals und alles schüchterte mich ein: der rege Betrieb am Förderschacht, die Enge im Korb, das Getöse der Grubenwagen. Ich wunderte mich, wie warm es da unten war, auf der vierten Sohle, fast vierhundert Meter unter der Erde. Und je tiefer ich dem Steiger und den anderen in die Strecke folgte, desto wärmer wurde es. Ich schwitzte schon, bevor ich überhaupt mit der Arbeit angefangen hatte. Alle anderen waren schon irgendwo abgebogen, da waren wir endlich am Ziel: Der Steiger leuchtete in einen Streb, an dessen Ende jemand hockte und mit einem Presslufthammer die Wand bearbeitete, als sei der Berg sein persönlicher Feind.
Der Steiger drehte am Pressluftventil und das ohrenbetäubende Rattern verstummte. Der Mann im Streb drehte sich um, weiße Augen blitzten aus einem schwarz verschmierten Gesicht.
»Glückauf, Wawerka«, sagte der Steiger, »das hier ist Krafczyk, dein neuer Schlepper.«
Sprach’s und verschwand. Und ich stand da, allein mit diesem riesigen Mann, der nun aus dem Streb rutschte und sich vor mir aufbaute, mich von oben bis unten musterte.
»Krafczyk also«, sagte er schließlich. »’n Polack?«
»Oberschlesien. Da haben wir auch Kohle.«
»Die Polacken oder
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