Kalendarium des Todes - Mord am Hellweg VI
sind nackt. Ein kräftiger Mann – aber ohne Gesicht. Von der Stirn bis zum Kinn gähnt ein blutiges Loch. Auf dem Stroh unter dem Kopf klebt getrocknetes Blut.
»Oh, verdammich«, sagt der eine Bestatter und dreht sich weg. Er hat in seinem Beruf schon eine Menge zu Gesicht bekommen. Bauern sehen nach tödlichen Angriffen von ausgewachsenen Bullen auch nicht gut aus. Aber das hier ist sogar für ihn zu viel.
Der andere kniet sich hin und befühlt die Lumpen, die der Tote trägt. »Wie ich gesagt habe: knochentrocken«, murmelt er. »Der Mann war nie im Wasser.«
»Vielleicht doch«, sagt sein Kollege, als sie später rauchend vor der Schule stehen. »Vielleicht hat ihn jemand gleich heute Morgen aus der Ruhr geholt und ihm die Sachen angezogen.«
»Und was ist mit dem Gesicht?«
»Das kann auch ein Brückenpfeiler gewesen sein. Oder ein Baumstamm. Oder ein Haus. Hast du gesehen, wie viele Häuser die Ruhr runtergeschwommen sind?!«
»Ich weiß nicht. Mir kommt es vor, als hätte ich den Kerl schon mal gesehen. Bei den Fremdarbeitern. Wenn sie morgens runter zum Ruhrwerk marschiert sind.«
»Bist du sicher?«
»Nee. Aber wir können ja mal nachfragen.«
In den Montagehallen bei Friko wird um diese Zeit bereits gearbeitet. Es ist Krieg, die Armeen in Russland und Nordafrika brauchen Nachschub. Bis hierher ist das Wasser nicht gekommen. Die Bestatter steigen die Treppe zur Schleiferei hinauf und klopfen an die Tür der Wachstube. Der Lange öffnet ihnen. Er sieht verschlafen aus. Das schmuddelige verfleckte Hemd hängt ihm aus der Hose. »Ja?«, fragt er.
»Vermissen Sie einen Ihrer Fremdarbeiter?«
»Wer sind Sie?«
»Wir schreinern die Särge für die Wassertoten«, antwortet einer der Bestatter.
»In der Schule haben wir eine Leiche gefunden. Eine Leiche ohne Gesicht«, fährt der andere fort. »Und da haben wir gedacht, dass der Mann vielleicht einer von Ihren Leuten ist. Wäre schön, wenn wir für den Toten einen Namen hätten.«
Der Lange ruft den Kleinen zu sich. »Vermissen wir jemanden?«, fragt er.
Der Kleine schüttelt den Kopf. Er ist bleich. Unter seinen Augen sind dunkle Ringe zu sehen. Er schaut die beiden Bestatter nicht an.
»Alle Männer vollzählig angetreten?«
Der Kleine nickt.
»Sehen Sie«, sagt der Lange.
»Der Tote ist ein kräftiger Mann mit Glatze!«
»Kräftig?« Der Lange lacht. »Ein kräftiger Fremdarbeiter? Bei uns? Gibt’s nicht!«
»Wird der Mensch eben anonym bestattet«, sagt einer der Bestatter, als sie die Kirchstraße hinuntergehen.
Der andere schweigt.
»Da liegen bestimmt noch mehr Tote, wo sie nie den Namen rauskriegen werden. Soll die Geistlichkeit entscheiden, was mit ihnen passiert.«
»Trotzdem …«
»Was denn noch?«
»Die Aufseher bei Friko waren irgendwie merkwürdig. Ich traue denen nicht. Weißt du, wo die herkommen?«
»Keine Ahnung. Aus Wickede stammen sie jedenfalls nicht.«
Nachmittag des Karfreitag 1958
Der Sputnik 2 der Russen mit der Hündin Laika an Bord kreise jetzt seit mehr als hundertfünfzig Tagen um die Erde, haben sie am Morgen auf NWDR gemeldet. Eisenhower und Adenauer haben etwas dazu gesagt – oder war es Heuss? Egal, er hat den Nachrichten nur mit halbem Ohr zugehört, während er sich für die Fahrt nach Wickede umgezogen hat: grauer Anzug, grauer Schlips mit weißen Streifen, grauer Mantel. Und die guten schwarzen Schuhe. Die trägt er eigentlich immer nur an Karfreitag. Um fünfzehn Uhr wird die Messe beginnen. Wie in jedem Jahr. Zeit genug.
Der kleine Bahnhof des Ortes. Hier stand das Wasser damals kniehoch. Letztes Jahr hat Wickede als erste Gemeinde des Ruhrtals an der Hauptstraße ein Mahnmal für die Wassertoten der Nacht vom 16. auf den 17. Mai 1943 errichtet. Er hat davon in der Zeitung gelesen. Und auch, dass nirgendwo sonst an der Ruhr im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung mehr Menschen ums Leben gekommen sind. Auf dem Foto ist eine unauffällige Steinsäule mit eingelassenen Reliefs zu sehen gewesen – nur ein paar Meter vom Fluss entfernt.
Nachdem er den Bahnhof verlassen hat, macht er sich auf den Weg zum Markt, vorbei am Geipings Hof und am Eisenwarengeschäft Merse, den Berg hinauf zu St. Antonius. Kaum ein Mensch ist um diese Zeit auf der Straße, die Leute werden beim Essen sitzen. Die Katholischen vor gekochtem Fisch, die Evangelischen mit Fleisch auf dem Teller, manche auch mit Kabeljau oder Seelachs. Während der heiligen Messe wird er in der letzten Reihe sitzen. Wo ihn niemand beachtet. Wo
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