Kalendarium des Todes - Mord am Hellweg VI
was meinst du mit ›wir‹?«
»Bin kein Pole, bin Deutscher.«
»Deutscher willste sein? Warum erst jetzt? Weil die Polacken dir keine Arbeit mehr geben?«
»Mutter wollte nicht weg aus Sohrau, sie …«
»’n Muttersöhnchen biste auch noch?«
Von Anfang an wusste Wawerka, wie er mir wehtun konnte.
Bevor ich noch irgendetwas sagen konnte, drückte er mir eine Pannschaufel in die Hand und zeigte auf den riesigen Berg Kohle, den er bereits aus der Wand gehauen hatte.
»Bist nich zum Quatschen hier, Polack. Sieh zu, dass du die Kohle in den Wagen schaufelst.«
»In welchen Wagen?«
»Wenn hier keiner is, musste wohl einen rankarren.«
Und damit kletterte er zurück in den Streb und warf den Abbauhammer wieder an. Ich brauchte ewig, um einen Grubenwagen heranzuholen, war überrascht, wie schwer schon der leere Wagen war und wie viel schwerer das Kohleschaufeln. Meine Wasserflasche war längst leer, als der Höllenlärm im Streb nach einer Ewigkeit verstummte und Wawerka endlich Pause machte. Mein staubiger Mund verlangte zu trinken, doch ich hatte nichts mehr. Wawerka kam gar nicht auf die Idee, mir etwas anzubieten, er nahm Schluck um Schluck aus seiner Pulle und schüttete sich den Rest Wasser noch grinsend ins Gesicht, bevor er mich wieder an die Arbeit scheuchte. Halb wahnsinnig vor Durst brachte ich die Schicht zu Ende und als wir nach einer Ewigkeit mit den anderen wieder ausfuhren, musste ich mich beherrschen, nicht schon aus den Pfützen auf dem Weg zur Waschkaue zu trinken, sondern erst den Mund zu öffnen, als das Wasser aus der Brause auf mein Gesicht prasselte.
Doch ich ließ mich nicht unterkriegen und vielleicht war genau das der Fehler: dass ich am nächsten Tag wieder zur Frühschicht einfuhr, obwohl ich mich kaum bewegen konnte und mir die Fahrt mit dem Förderkorb hinab in den Schacht vorkam wie eine Fahrt direkt in die Hölle.
Dabei hatte Onkel Günter mir das Paradies versprochen, als er mich nach Mutters Tod zu sich nach Dortmund geholt hatte. Sie erwarteten mich am Bahnhof in Bövinghausen, ich war müde nach der langen Reise und glücklich, endlich im goldenen Westen zu sein. Egon, mein zwölfjähriger Vetter, nahm mir den Koffer ab, Tante Lisbeth stellte Fragen über Fragen auf dem Weg in die Kolonie, und noch bevor sie mir mein Zimmer zeigten, das ich mir mit Egon teilte, machten wir an der Trinkhalle halt, wenige Meter vor ihrem Häuschen, und Onkel Günter gab Bier und Sinalco aus.
Zuerst dachte ich, er wolle mir zeigen, wie gut es ihnen hier ging, dass die Krafczyks aus Bövinghausen sich durchaus mal ein Bierchen leisten konnten, aber dann merkte ich, dass er mich dem einarmigen Mann vorstellen wollte, dem die Trinkhalle gehörte. Der rote Jakubik, wie ihn alle nannten, schaute mich wohlwollend an, als er mir eine Sinalco hinstellte. »Wird Zeit, dass wieder ein Krafczyk in Zollern zwo einfährt«, sagte er. Die freundliche Familie in ihrem schmucken Häuschen mit dem Blumenbeet, in dem die Schneeglöckchen bereits blühten, Jakubik mit seiner Trinkhalle, die süße Sinalco – an diesem Tag fühlte ich mich wirklich wie im Paradies.
Bis zu meiner ersten Schicht.
In der ersten Zeit protestierte ich noch, wenn Wawerka mich beschimpfte oder Kohlebrocken nach mir warf.
»Willste deinen Namen draußen an der Markenstube lesen, Polack?«, sagte er dann. »Musste nur sagen!«
Jeden Monat hängten sie dort eine neue Liste aus. Wer seinen Namen darauf entdeckte, der wusste, dass er bald zur letzten Schicht einfahren würde. In diesem beschissenen Frühjahr 1932 hatte jeder Angst, ins Bodenlose zu stürzen, so viele Arbeitslose waren schon in den Straßen zu sehen. Sie bettelten, standen Schlange vor dem Arbeitsamt oder marschierten in den braunen SA-Uniformen, weil sie sonst nichts zu tun hatten.
Onkel Günter hatte mir Arbeit besorgt in Zeiten, in denen es nirgends Arbeit gab. Seit die Staublunge ihm keine Luft mehr ließ für die harte Arbeit unter Tage, musste ein anderer das Geld verdienen. Ohne mich hätte die Familie Krafczyk ihr Häuschen mitsamt Gemüsegarten nicht halten können. Sie hatten mich aufgenommen, aber sie erwarteten auch etwas von mir.
Die ersten Tage dachte ich noch, das mit Wawerka würde sich irgendwann legen, wenn er erst merkte, wie ich anpacken konnte. Aber es wurde nicht besser, es wurde schlimmer. Ich wusste nicht, was er erzählt hatte über mich, aber von Anfang an war ich auch für die anderen Kumpel nur der Polack, mit dem sich niemand abgeben
Weitere Kostenlose Bücher