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Kalendarium des Todes - Mord am Hellweg VI

Kalendarium des Todes - Mord am Hellweg VI

Titel: Kalendarium des Todes - Mord am Hellweg VI Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Grafit
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Schienen der Ruhrtalbahn näher kommt. Nachdem der Zug gehalten hat, steigt nur ein kräftiger Mann aus. Sein Gesicht verbirgt sich unter einem tief in die Stirn gezogenen Hut. Ohne nach links oder rechts zu schauen, verschwindet er im Bahnhofsgebäude.
    Er steigt ein. Der Waggon ist leer. Er setzt sich ans Fenster und schaut zu, wie der Zug den Bahnhof verlässt. Hier war alles voll Wasser, denkt er und flucht zur gleichen Zeit, weil er das nicht denken will. Weil er das verfluchte Wasser und den Toten endlich aus dem Kopf bekommen will. Den Toten, dem er nicht nur das Leben, sondern auch das Gesicht genommen hat. Erst jetzt bemerkt er, dass er den Stein vom Friedhof noch immer in der Hand trägt. Hastig öffnet er das Fenster und wirft ihn die Böschung hinunter.
    Allmählich schlägt sein Puls ruhiger, seine Blase meldet sich, wie sie es immer tut, wenn er sich aufgeregt hat. Er geht zur Toilette, wo ihm ätzender Chlorgeruch entgegenschlägt. So hat es auch bei Friko gerochen, den Gestank der primitiven Klos waren die Männer nicht mehr losgeworden. Seine Junghans, die er sich letzte Weihnachten selbst geschenkt hat, zeigt drei. Die Karfreitagsmesse dürfte in diesem Moment beginnen.
    Er knöpft sich die Hose zu, öffnet die Tür – da stößt ihn eine Hand brutal zurück. Ein Mann drängt sich zu ihm in die Toilette.
    »Was soll das?«, ruft er. »Sind Sie verrückt?«
    Der Mann ist fast zwei Meter groß und trägt einen Hut, der sein Gesicht halb verdeckt. Wie bei dem Fahrgast, der in Wickede aus dem Zug gestiegen ist.
    »Bestie!«, sagt der Mann mit einem Akzent, der nach Russland klingt oder nach Polen.
    »Was … was wollen Sie von mir?«
    Der Mann nimmt den Hut ab.
    »Du bist … Sie sind … Alexej!«
    »Du Michail umgebracht.«
    »Ich wollte das nicht! Glauben Sie mir! Der Lange hat mich gezwungen!«
    »Der Lange tot.«
    Tot? Wenn es gar kein Unfall war, wie es in der Zeitung gestanden hat, wenn Alexej den Langen umgebracht hat?, schießt es dem Kleinen durch den Kopf.
    »Du jetzt zahlen«, sagt der Mann und zerrt den Kleinen aus der Toilette.
    Der Kleine wehrt sich, hält sich am Türrahmen fest. »Nicht! Bitte! Ich habe Oleg geliebt! Deshalb hat der Lange mich …«
    »Bestie!«, wiederholt Alexej und reißt die Waggontür auf. Draußen fliegen ein paar Häuser vorbei, an dieser Stelle beschleunigt der Zug auf Höchstgeschwindigkeit.
    »Hilfe!«, will der Kleine schreien. Doch der Fahrtwind reißt ihm das Wort von den Lippen. Und dann fliegt er und fliegt und findet endlich alles richtig und lächelt, als er die grüne Wasserwand herankommen sieht, und spürt den Aufprall kaum und versinkt tiefer und tiefer bis auf den Grund.
    »Ihre Fahrkarte bitte«, sagt der Schaffner, als er hinter Fröndenberg das Raucherabteil betritt.
    Alexej reicht ihm sein Ticket.
    »Leer der Zug heute«, sagt der Schaffner. »Ist eben Karfreitag.«
    Alexej lächelt.
    »In Schwerte umsteigen«, sagt der Schaffner.
    »Danke«, sagt Alexej und zündet sich eine Papirossa an.

Ostersonntag
    Ostern gehört zu den beweglichen Festen, deren Termine von Jahr zu Jahr variieren. Der Ostersonntag ist dabei stets der Sonntag nach dem ersten Frühjahrsvollmond, also frühestens der 22. März und spätestens der 25. April. Die sogenannte Karwoche des christlichen Glaubens beginnt mit dem Palmsonntag (Einzug Jesu in Jerusalem), und geht über den Gründonnerstag (das letzte Abendmahl) und den Karfreitag (Kreuzigung) bis zum Ostersonntag (Auferstehung). Zum Osterbrauchtum in den deutschsprachigen Ländern gehört das Verstecken von bunt bemalten Ostereiern, die von den Kindern am Ostersonntag gesucht werden müssen. Das Ei gilt als Zeichen des Lebens und der Fruchtbarkeit. Der Brauch des Osterfeuers, auf den sich Volker Kutscher in seiner historischen Kriminalgeschichte bezieht, entstammt noch vorchristlichen Zeiten und sollte die Geister des Winters vertreiben.

Volker Kutscher
    Dortmunder Osterfeuer
    Sonntag, 27. März 1932
    Drüben an der Provinzialstraße läuten die Glocken zur Ostermesse, doch niemand rührt sich.
    Ich kann mich nicht regen, kann nicht sprechen, fühle mich wie ein Toter, der nicht sterben darf.
    Wir sitzen in Onkel Günters enger Stube, die Morgensonne steht genau hinter den Fördertürmen und lässt die Zeche Zollern strahlen wie die Verheißung einer goldenen Zukunft, doch ich weiß nicht, ob ich jemals wieder dort einfahren werde.
    Manchmal wünsche ich, die Zeit ließe sich zurückdrehen, doch das geht nicht, und

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