Kalendarium des Todes - Mord am Hellweg VI
wollte. Nicht einmal in der Waschkaue. Niemand fand sich zum Buckeln, und so besorgte ich mir eine lange Bürste, mit der ich mir den Rücken allein schrubben konnte. Unter den dummen Bemerkungen der anderen.
Tante Lisbeth wusste nichts davon, ich konnte ihr einfach nicht die Wahrheit sagen, und Onkel Günter erst recht nicht. Sollte ich mich beklagen, nach allem, was sie für mich getan hatten?
Es gab nur einen Menschen in der Kolonie, mit dem ich reden konnte, und das war der rote Jakubik. Immer öfter machte ich Halt bei ihm auf dem Heimweg von der Schicht. Half ihm, Bierkästen zu sortieren, half bei all den Dingen, die man mit zwei Händen besser erledigen konnte als mit einer. Und eines Tages – Jakubik musste mir hoch und heilig versprechen, Onkel Günter nichts zu verraten – habe ich ihm von Wawerka erzählt, ich konnte nicht anders.
»Wawerka? Ausgerechnet bei der braunen Ratte bist du gelandet?« Jakubik schüttelte den Kopf. Und dann erzählte er eine Geschichte, und ich sollte endlich erfahren, wie er seinen Arm verloren hatte und seine Arbeit. Und warum Wawerka mich so hasste.
Ein Grubenunglück vor gut drei Jahren, der Streckenausbau war zusammengebrochen. Keine große Sache, nichts, was Schlagzeilen geschrieben hatte wie die Schlagwetterexplosion auf Minister Stein anno fünfundzwanzig, bei der hundertsechsunddreißig Bergleute ihr Leben ließen.
Ein Türstock hatte nachgegeben und die Gesteinsmassen waren nach unten gerutscht, hätten Jakubik und seinen Kumpel Strathmann beinahe erschlagen. Als der Staub sich setzte, lag Strathmann da mit gebrochenen Beinen. Und Jakubiks linker Arm war zwischen zwei Grubenhölzern und dem Fels eingeklemmt, so sehr er sich auch mühte, er bekam ihn nicht frei.
Aber sie lebten.
Die Hilferufe der beiden blieben ungehört, sie waren zu weit weg von den anderen.
»Wir konnten nicht warten, bis sie uns suchten«, erzählte Jakubik. »Der Berg hatte sich immer noch nicht beruhigt, dicke Felsbrocken drohten nachzurutschen.«
Strathmann versuchte loszurobben, um Hilfe zu holen, doch er schrie bei jeder Bewegung vor Schmerz, verlor schließlich das Bewusstsein.
»Ich hatte Angst, der Berg würde uns beide begraben«, sagte Jakubik und es klang wie eine Entschuldigung. »Ich habe keinen anderen Ausweg gesehen, habe eine Axt genommen und mir den Unterarm abgehackt. Zwei Hiebe, dann war ich frei.«
Ich musste schlucken. Es war das erste Mal, dass ich hörte, zu welchen Taten die Todesangst einen Menschen treiben kann.
Jakubik erzählte weiter: Wie er sich den blutenden Stumpf, so gut es ging, abgebunden hatte und der Strecke folgte, bis er nach einer halben Ewigkeit an einer Wettertür auf Onkel Günter traf, ihm von dem Streckenbruch berichtete und von Strathmann, der immer noch dort lag. Wie er dann zusammengebrochen ist.
»Dein Onkel musste sich entscheiden: Ich oder Strathmann. Und weil ich blutete, weil ich dringend einen Arzt brauchte, hat er mich zuerst zum Förderschacht geschleift und die Grubenwehr zu Strathmann geschickt.« Jakubik musste sich eine Zigarette anzünden, bevor er weitersprechen konnte. »Aber als die dort ankam, war der Stollen komplett eingestürzt. Sie haben versucht, Strathmann freizugraben, doch als sie endlich zu ihm durchdrangen, fanden sie nur noch seine Leiche.«
Ich wusste nichts zu sagen nach dieser traurigen Geschichte und Jakubik schaute mich ernst an.
»Da ist noch was, was ich dir erzählen muss, Jungchen. Dein Onkel hat richtig gehandelt damals, aber es gibt einige, die geben ihm die Schuld an Strathmanns Tod. Und mir natürlich, weil ich ihn nicht mitgenommen habe.«
Ich ahnte, was er mir sagen wollte.
»Einer von denen ist Wawerka.«
Jakubik nickte. »Strathmann war Wawerkas bester Kumpel.«
Nun wusste ich Bescheid. Wawerka würde mich niemals in Ruhe lassen. Weil ich der Neffe von Günter Krafczyk war.
Dann passierte die Sache mit dem Akku. Die Grubenlampen gaben ein eher schummriges Licht ab, aber wie stockdunkel es unter Tage wirklich war, das merkte man erst, wenn sie einmal ausfielen. Wawerka musste mir mit Absicht eine Lampe mit fast leerem Akku untergejubelt haben, er kannte ja auch in der Lampenstube Gott und die Welt, da konnte er das ein oder andere drehen.
»Muss mal zum Steiger«, hatte er sich unten im Streb von mir verabschiedet. »Wenn ich zurück bin, is die Kohle hier weg! Klar!?«
Da hatte das Licht bereits zu flackern begonnen, aber ich war zu unerfahren, um zu wissen, was das bedeutete. Ich
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