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Kalendarium des Todes - Mord am Hellweg VI

Kalendarium des Todes - Mord am Hellweg VI

Titel: Kalendarium des Todes - Mord am Hellweg VI Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Grafit
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ihn keiner kennt. Seit er aus der russischen Kriegsgefangenschaft heimgekehrt ist, trägt er einen Vollbart. Und dicker geworden ist er auch. Sein Vorgesetzter in der Brauerei, wo er in der Buchhaltung arbeitet, hat ihn erst neulich einen Fettwanst genannt. Der Mensch schikaniert ihn, wo immer sich eine Gelegenheit ergibt.
    Das Friedhofstor schreit auf, als er es öffnet. Rechts, links, wieder rechts und links: Da liegen sie. Fünf Gräber für die Wassertoten, die man nicht hat identifizieren können, Gräber, die er Jahr für Jahr an Karfreitag besucht. Das heißt, eigentlich besucht er nur eines der fünf. Links außen, stellt er sich vor, haben sie Michail begraben. Den erschlagenen Michail aus Nowosibirsk, den er gleich um Verzeihung bitten wird. Wie jedes Jahr.
    Jetzt stutzt er und rückt sich die Brille zurecht, deren Gläser seine Augen unnatürlich vergrößern. Auf der Grabplatte links außen liegt ein runder Stein, groß wie zwei Fäuste. Hier hat zu Karfreitag noch nie ein Stein gelegen, daran würde er sich erinnern; jemand muss ihn hergebracht haben. Als er ihn aufhebt, liest er, was in gleichmäßiger Schrift in den Stein geritzt worden ist:
    Michail Swerdlow
    *12.3.1903 Nowosibirsk – ermordet 19.5.1943 Wick.de
    Der Stein fällt ihm aus den Händen, er will fliehen, weg, nur weg. Doch dann hebt er ihn wieder auf und versteckt ihn unter seinem Mantel. Nervös schaut er sich um, niemand scheint ihn beobachtet zu haben. Es ist Feiertag, bei Friko gegenüber wird zum Glück nicht gearbeitet, kein Laut ist aus den ineinander verschachtelten Gebäuden zu hören, in denen sie für die ganze Welt Fahrradlenker bauen. Die Zeiger seiner Armbanduhr stehen auf halb drei, gleich werden die Holzrasseln zur Karfreitagsmesse rufen, die Glocken sind seit Gründonnerstag verstummt.
    Er verlässt den Friedhof, geht langsam, zwingt sich, nicht zu laufen, sich auf keinen Fall verdächtig zu machen. Auf der Kirchstraße kommen ihm ein Mann und eine Frau entgegen, beide in Schwarz. Die Frau hat sich bei dem Mann eingehängt, die beiden schenken dem Fremden keinen Blick. Während er den Berg hinuntergeht, bewegen sich seine Lippen, ohne dass er sich dessen erwehren kann: Wer hat den Stein aufs Grab gelegt?, flüstert es aus ihm heraus. Wer weiß von dem Mord? Gab es Zeugen? Wer hat erfahren, dass er seit zehn Jahren Karfreitag für Karfreitag das Grab besucht? Ist dieser Mensch hier, hier in Wickede? Will er Rache nehmen? Ihn erpressen? Wartet er irgendwo auf ihn? Hinter dem Haus dort? In dem Hofeingang daneben?
    Die Hauptstraße hat sich jetzt belebt, die Karfreitagsmesse war immer gut besucht, so wird es auch heute sein. Er drückt sich an den Häusern entlang, von denen keines Spuren des Krieges trägt, die britischen Bomber haben Wickede im Gegensatz zu den großen Städten des Ruhrgebiets verschont. In der Schauburg spielen sie Die Brücke am Kwai; für nächste Woche ist Zeugin der Anklage mit Marlene Dietrich angekündigt. Für einen Moment überlegt er, ins Kino zu gehen, in der Dunkelheit des Saals zu verschwinden, um in Ruhe nachzudenken. Dann sieht er, dass geschlossen ist. An Karfreitag findet keine Vorstellung statt.
    Der Bahnsteig ist leer, die Gaststätte Deutsches Haus neben dem Bahnhof geschlossen. Hierher ist er manchmal mit dem Langen gegangen, um ein Bier und einen Schnaps zu trinken. Damals. Man hat sie in Ruhe gelassen. Irgendwann hat der Lange eine Lokalrunde geschmissen, seine heimlichen Geschäfte hatten ihm offenbar einiges eingebracht. Aber auch das hat nichts genützt. Die Leute haben den Schnaps getrunken und sich wieder ihren Theken- und Tischnachbarn zugewandt. Mit den Aufsehern aus der Fremdarbeiterunterkunft wollte man nichts zu tun haben. Ihm war das recht, aber der Lange hatte den Wickedern die Pest an den Hals gewünscht.
    Nach jener Nacht sind sie nicht mehr in der Kneipe gewesen, sind sich überhaupt, wann immer es möglich war, aus dem Weg gegangen, haben nur noch das Nötigste miteinander gesprochen.
    Vor einem Jahr ist der Lange gestorben. Ein Unfall, hat man sich im Viertel erzählt. Er muss nachts betrunken auf den Bahngleisen unterwegs gewesen sein. Hat den Güterzug nicht gehört, der nach Hörde unterwegs war. Seit sie sich damals beide kurz nacheinander freiwillig an die Front gemeldet haben, haben sie keinen Kontakt mehr gehabt. Ist auch besser so gewesen.
    Über den flachen Hallen der Stahlwerke erhebt sich eine Qualmwolke, die genau wie das Geräusch der Räder auf den

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