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Kalendarium des Todes - Mord am Hellweg VI

Kalendarium des Todes - Mord am Hellweg VI

Titel: Kalendarium des Todes - Mord am Hellweg VI Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Grafit
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sich, ob sie sich nicht geirrt hatte.
    Schon wenige Tage später schmuggelte Arthur den Russen erneut an den Nachbarn vorbei, und nach einigen Wochen war es Gertrud bereits zur Gewohnheit geworden, vor dem Abendessen die Vordertür zu verriegeln, die Vorhänge zu schließen und einen Teller mehr aufzudecken.
    Nachdem sie die verschlungenen Sträßchen der Kolonie hinter sich gelassen hatten, beschleunigte das Taxi und steuerte auf die Ahlener Altstadt zu.
    »Wir sind da.« Der Taxifahrer deutete auf ein klobiges Bauwerk, dessen Fassade aus bräunlichem Spiegelglas bestand. Das war also die Stadthalle.
    Gertrud war nach dem Krieg nicht mehr nach Ahlen zurückgekehrt. Erst als sie vor einigen Monaten durch Zufall gelesen hatte, dass man als Zeichen der Wiedergutmachung ehemalige Zwangsarbeiter aus dem Zweiten Weltkrieg nach Ahlen einladen wollte, hatte sie sich gesagt, dass es an der Zeit war, sich ihrer Vergangenheit zu stellen.
    Diese Stadthalle hatte sie in ihrem Leben noch nie gesehen, doch der verglaste Klotz schien ihr nicht ins Stadtbild zu passen. Aber vielleicht war so was heutzutage ja modern.
    Es war an einem Donnerstag geschehen, ein Dreivierteljahr vor Kriegsende. Im März noch hatten die Alliierten die Zeche bombardiert, der schwerste Angriff seit Langem, bei dem über zweihundert Menschen starben und unzählige Wohnhäuser zerstört wurden. Nur wenige Tage später wurde bereits wieder Kohle gefördert. Nicht alle Bergleute waren eingezogen worden, Arthur gehörte zu den Glücklichen, die nicht an die Front mussten. Aber die Arbeit war gefährlich geworden, die Zwangsarbeiter waren durch die permanente Unterernährung geschwächt und nicht voll einsatzfähig, gleichzeitig wurden die erfahrenen Zechenkumpel immer rarer.
    So standen denn eines Mittags einige Kumpel vor ihrer Haustüre, drehten betreten die Mützen in den Händen und berichteten von dem ungesicherten Nebenschacht, in den Arthur gestürzt war. Unzugängliches Gelände. Keine Chance, die Leiche zu bergen, es tue ihnen leid.
    Als wären ihre Stimmen von weit her gekommen, erinnerte sich Gertrud, während sie sich aus dem Taxi helfen ließ. Sie hatte einfach dagestanden und kein Wort hervorgebracht, während ihre Welt um sie herum zusammengebrochen war und eine Dunkelheit sie erfasst hatte, die sie in den folgenden Wochen beinahe verschlungen hätte. Hatte weinend vor einem leeren Grab gekniet und sich am liebsten selbst hineingelegt.
    Mit zitteriger Hand kramte Gertrud ihren Geldbeutel hervor und bezahlte den Fahrer. Ich wüsste nicht, was ich getan hätte, dachte sie, wenn Sergej nicht gewesen wäre.
    Sie hörte das zögerliche Klopfen an der Hintertür erst, nachdem sie das Kartoffelwasser abgeschüttet hatte. Als sie öffnete, stand er da, und im ersten Moment wäre sie ihm vor Erleichterung beinahe um den Hals gefallen. Dann hatte sie sich alarmiert umgesehen. Seit Arthurs Tod spionierte die Witwe Janssen noch häufiger hinter ihr her und kam zu allen möglichen Tageszeiten vorbei. Bei allem, was sie tat, bei jedem Schritt kam Gertrud sich beobachtet vor.
    »Wir müssen leise sein«, wisperte sie, während sie Sergejs Hand ergriff und ihn rasch in die Küche hineinzog. Sie schloss die Vorhänge und drehte das Licht herunter, bevor sie ihm einen Teller Stampfkartoffeln hinstellte, doch er aß nicht sofort.
    »Es tut mir leid, was mit Arthur passiert ist«, sagte er leise in gebrochenem Deutsch, und sie nickte, während sie gegen die aufsteigenden Tränen ankämpfte.
    »Du bist hier immer willkommen«, erklärte sie mit fester Stimme. »Arthur hätte das so gewollt.«
    Wie oft hatte er bei ihr gegessen! Gertrud seufzte, während sie sich auf der Tafel im Eingangsbereich der Stadthalle orientierte, in welchem Raum die Feier stattfinden würde. Manchen Abend hatten sie, als die Kinder längst im Bett waren, beim spärlichen Licht der Laterne gemeinsam am Tisch gesessen und flüsternd Pläne geschmiedet! Wie das sein würde, nach dem Krieg. Was sie dann tun wollten. Man erfuhr von offizieller Seite wenig, aber nach allem, was erzählt wurde, würde es nicht mehr lange dauern. Der Hitler zeigte sich zwar unverwandt zuversichtlich, doch in der Kolonie gab man immer weniger auf das andauernde Propagandagebrüll.
    Sergej brachte sie wieder zum Lachen. Mit diesem Blitzen in seinen stahlblauen Augen erzählte er ihr von Russland, den endlosen Wäldern, dieser Weite. War er bei ihr, konnte sie für ein paar Stunden die bedrückenden Sorgen vergessen.

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