Kalendarium des Todes - Mord am Hellweg VI
Noch hatte sich niemand von der Zeche gemeldet, doch Gertrud wusste, dass sie bald ausziehen müsste. Keines ihrer sechs Kinder war schon vierzehn und konnte für Arbeiten im Bergbau eingesetzt werden, und um Kostgänger aufzunehmen, fehlte ihr schlichtweg der Platz. Wenig begeistert hatte der Bauer, bei dem sie nachmittags arbeitete, zugesagt, sie und die Kinder vorübergehend aufzunehmen; sie wusste aber, dass längerfristig eine andere Lösung hermusste.
»Komm mit mir nach Russland!«, schlug Sergej an jenem verhängnisvollen Neujahrsmorgen des Jahres 1945 plötzlich vor.
Er hatte die Nacht bei ihr verbracht, war nach der Silvesterfeier in der Kolonie, an der Gertrud teilgenommen hatte, zu ihr ins Haus geschlichen. Als die Kinder endlich im Bett waren, hatte sich Gertrud zu ihm an den Küchentisch gesetzt und gemeinsam hatten sie die ganze Nacht diskutiert.
»Ach Sergej, was redest du denn da?« Gertrud flüsterte, um die Kinder nicht aufzuwecken.«
»Ich meine es ernst. Meine Familie besitzt ein großes Haus, da gibt es genug Platz für alle.«
»Aber was soll ich denn in Russland? Ich war doch noch nie weg von hier.«
»Wir werden Schweine halten, aber nicht nur zwei oder drei in einem Pferch hinter dem Haus wie du jetzt, sondern eine ganze Herde, dazu einen großen Garten anlegen …«
»Du bist ein Träumer, Sergej.«
»Ich meine es ernst. Komm mit mir!«
»Es ist spät. Du musst gehen!«, erklärte Gertrud und stand abrupt auf, doch er griff nach ihrer Hand und hielt sie fest.
»Wir könnten glücklich sein«, flüsterte er eindringlich.
Sie hielt inne und sah ihn mit plötzlichem Erkennen an, worauf er sich rasch erhob und sie an sich zog.
»Ich kann nicht«, flüsterte sie und schob ihn weg. »Es tut mir leid.«
Enttäuscht sah er sie an. »Weißt du denn nicht, dass ich dich …«
»Sergej!« Vor Schreck zuckte Gertrud so heftig zusammen, dass er sie auf der Stelle losließ.
Ein eiskalter Luftzug hatte sie gestreift und als sie zur Tür blickte, stand sie da. Mitten in der Küche. Wie lange, konnte Gertrud nicht sagen, doch lange genug, damit sich ein hämisches Lächeln auf ihrem Gesicht hatte breitmachen können. Hatte sie tatsächlich vergessen, die Haustür abzuschließen? Wahrscheinlich nachdem sie mit den Kindern draußen auf das neue Jahr angestoßen hatten.
»Hab ich doch richtig gesehn, dass hier jemand zu Besuch ist!« Die Janssen wandte sich zur Tür. »Die trauernde Witwe feiert also den Beginn des neuen Jahres in den Armen eines Zwangsarbeiters. Ich bin sicher, das wird eine ganze Menge Leute interessieren.«
»Witwe Janssen, bitte!« In ihrer Verzweiflung packte Gertrud sie am Ellbogen und riss sie herum, so heftig, dass die Frau zu Boden stürzte. Entsetzt schlug sich Gertrud die Hände vor den Mund. »Das wollte ich nicht!«
»Das wirst du bitter bereuen, du Hure!« Wütend rappelte sich die Witwe auf. »Im KZ wirst du an mich denken! Und deinen Liebhaber da werden sie noch erschlagen, bevor die Sonne untergeht, dafür werde ich höchstpersönlich sorgen!«
Wie versteinert verfolgte Gertrud, wie die Janssen nach der Türklinke griff. Im selben Moment streifte ihr Blick den Herd. Den Hackblock daneben. Ihr blieb keine Wahl.
»Witwe Janssen!«
Die gehässige Alte drehte sich nach ihr um.
Energisch schob Gertrud das Kinn vor, hielt den Atem an und holte aus – ein gezielter Hieb mit der Axt zwischen die Augen und die Witwe sackte zusammen.
Erstaunlich, was Schweine alles fressen, dachte Gertrud mit Schaudern und setzte sich in die hinterste Sitzreihe des noch leeren Saals in der Stadthalle. Für die Schweine im Koben hinter dem Haus war das damals ein üppiges Neujahrsmahl gewesen Es war nichts übrig geblieben.
Sergej hatte sie nie mehr gesehen. Wenige Tage nach dem Mord an Witwe Janssen wurde ihr förmlich mitgeteilt, dass sie ihr Haus zu verlassen habe, und wie abgemacht war sie mit den Kindern zuerst zum Bauern gezogen. Später dann, nach Kriegsende, zu Verwandten in der Nähe von Hamburg. Aus Briefen einer Nachbarin erfuhr sie vom rätselhaften Verschwinden der Witwe Janssen in der Neujahrsnacht. Man hatte einen ihrer Kostgänger verhaftet, mit dem sie angeblich eine Affäre gehabt hatte, mangels Beweisen war er aber bald wieder freigelassen worden.
Auch über Unruhen in der Kolonie wurde ihr berichtet, die Zwangsarbeiter hätten nach dem Zusammenbruch des Deutschen Reichs einige ihrer ehemaligen Peiniger umgebracht und Häuser geplündert. Gertrud hatte keine
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