Kalifornische Sinfonie
legen sollen. Sie hatte gar kein Mitleid. Sie kam sich nur erbärmlich und jämmerlich vor und schon halb verrückt.
Plötzlich sprang sie auf die Füße, die zwei Briefblätter in der Hand. »Oliver!« sagte sie rauh.
»Eine Minute noch, Darling«, versetzte Oliver, ohne auch nur die Augen zu heben. Und fuhr in seinem Gespräch fort: »Wie ist das nun, Charles: sind das die Zahlen für die diesjährige Verschiffung, oder –
»Oliver!« rief Garnet, einen Grad lauter und härter.
Charles sah ungeduldig auf: »Wir sind beim Rechnen, Garnet.«
»Ich rede nicht mit Ihnen«, sagte Garnet mit überschlagender Stimme.
Garnets Manieren waren in der Regel so tadellos, daß beide Männer jetzt erstaunt aufblickten. Oliver gab Charles das Kontobuch und stand auf. »Was ist denn, Garnet?« fragte er. »Hast du immer noch Angst wegen des Erdbebens?«
»Ich habe keine Angst«, sagte Garnet. »Aber ich bin so verdammt wütend, daß ich dich umbringen könnte!« Es war das erste Mal, daß Oliver sie das Wort ›verdammt‹ aussprechen hörte. Es war ihr herausgeschlüpft, bevor sie es noch wußte; nun, da es gesagt war, gab es ihr sonderbarerweise ein Gefühl der Befreiung. Sie hielt die beiden Briefblätter in der Hand. »Warum hast du mir damals in Santa Fé gesagt, John hätte dir keinen Brief gebracht?« keuchte sie.
Oliver riß ihr die Papiere aus der Hand und starrte darauf. »Mein Gott!« sagte er mit leiser Stimme. »Wo hast du das her?«
Sie wies mit einer kurzen Bewegung auf das noch am Boden verstreute Papier. Charles, der sich ebenfalls erhoben hatte, warf einen flüchtigen Blick auf den Brief und zuckte die Achseln, als er seine eigene Handschrift erkannte. »Ich dachte, du hättest das verbrannt?« sagte er, zu Oliver gewandt.
»Ich dachte, ich hätte es«, sagte Oliver. »Ich weiß nicht, wie die beiden Blätter herausfallen konnten.« Er knüllte das Papier zu einem Ball zusammen und warf es nach dem Kamin. Der Ball verfehlte sein Ziel und fiel auf den Fußboden.
»Ich habe dir immer gesagt, du könntest das nicht vor ihr verborgen halten«, bemerkte Charles.
Oliver tat einen Schritt vorwärts und legte Garnet eine Hand auf die Schulter. »Garnet«, sagte er, »Liebe. Glaube mir: Das da hat nichts mit dir und mir zu tun. Nicht das geringste.«
Garnet fühlte sich plötzlich müde. Ihr Kopf begann rasend zu schmerzen. Sie zog ihre Schulter unter seiner Hand weg. »Bitte«, sagte sie, »laß mich eine Weile allein.« Sie drehte sich um und legte die Hand auf die Klinke der Schlafzimmertür. Sie hörte Charles hinter sich sagen: »Oliver beabsichtigte nichts Böses, Garnet.« Und als sie schon die Tür aufstieß, setzte er trocken hinzu: »Das tat er übrigens noch nie.«
Garnet wandte sich um. »Ich nehme an, auch Sie beabsichtigten nichts Böses«, sagte sie. »Alles, woran Sie dachten, war: dies sei eine gute Gelegenheit für Oliver, ein Vermögen zu erwerben. Ich denke, ihr seid Betrüger und Feiglinge! Alle beide!«
Sie betrat das Schlafzimmer, schloß die Tür hinter sich und setzte sich auf den Bettrand. Aufstöhnend stützte sie den Kopf in die Hand. Das Zimmer war dunkel. Auf dem Tisch stand eine Kerze, aber sie hatte nichts, um sie anzünden zu können. Die Dunkelheit schien das Zimmer noch kälter zu machen; jedenfalls wirkte es noch wesentlich kälter als das Wohnzimmer. Garnet versuchte zu denken, aber sie war zu verwirrt und zu wütend. Ihre Nerven zitterten, wie vorhin die Erde Kaliforniens gezittert hatte. Ihre Gedanken gingen kreuz und quer durcheinander; sie hatte keine Kontrolle darüber. Vielleicht liebte Oliver dieses Mädchen Carmelita!
Wenn ich es recht bedenke, habe ich ihn praktisch selbst gefragt ob er mich heiraten will, dachte sie. Vielleicht tut es ihm jetzt schon leid, daß er mich geheiratet hat.
War das möglich? Ja, es konnte so sein. Vielleicht bereute Oliver längst den impulsiven Entschluß, den er in New York gefaßt hatte. Nach diesem Brief zu urteilen, mußte Carmelita Velasco über ein enormes Vermögen verfügen. Wenn sie so reich war und wenn er sie liebte, vielleicht wünschte er dann, frei zu sein, um sie heiraten zu können. Vielleicht würde er sich gern scheiden lassen.
Garnet starrte vor sich hin in das Dunkel. Sie hatte noch nie jemand gesehen, der geschieden war. Sie wußte nur, daß Scheidungen schamlose und skandalöse Angelegenheiten waren. Anständige Menschen sprachen von solchen Dingen mit verächtlichen Untertönen, wenn sie nicht überhaupt
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