Kalifornische Sinfonie
Carmelita Velasco ist tot.«
Garnet ließ die Orangenblüte fallen; das heimliche Schuldgefühl in ihr wuchs ins Riesenhafte. »Mein Gott«, stammelte sie völlig verwirrt, »ich hörte, es ginge ihr gut.«
»Oh«, sagte John, »es ging ihr ganz gut. Sie war noch immer oben im Norden bei ihrer Tante. Eines Tages kam sie auf die ausgefallene Idee, mit dem Baby auf dem Arm einen Ausritt zu unternehmen. Sie setzte mit dem Pferde über eine Felsenklippe und stürzte. Sie sind beide tot.«
Garnet preßte fassungslos die Faust gegen den Mund. »John«, keuchte sie mit vor Erregung heiserer Stimme, »wollen Sie sagen, sie stürzte – absichtlich? Weil – weil Oliver mit mir verheiratet ist?«
John antwortete ruhig und gleichmütig, als spräche er über das Wetter: »Es sieht so aus. Natürlich kann es sich auch um einen Unfall handeln. Aber kalifornische Mädchen haben nicht oft Reitunfälle. Sie lernen das Reiten zugleich mit dem Laufen.«
Garnet barg die brennenden Augen hinter den Händen; Tränen quollen zwischen ihren Fingern hervor. »Entschuldigen Sie, daß ich weine«, murmelte sie. »Ich weiß nicht, die Tränen sitzen mir in diesen Tagen so locker.« John schwieg, und sie begann sich allmählich wieder zu fangen. Es fiel ihr schwer, sich zu beherrschen, aber sie wollte nicht, daß John vermutete, es gäbe für ihre leichte Reizbarkeit einen physischen Grund. Sie hätte den Kopf an der Schulter eines Freundes betten und hemmungslos weinen mögen. Alle Dinge ihres Lebens waren plötzlich so schwierig; sie wußte nicht, was sie jetzt hätte fühlen sollen, sie vermochte nichts zu fühlen als Verwirrung und Einsamkeit.
John reichte ihr schweigend ein großes rotes Taschentuch. »Ich möchte Sie nicht dadurch beleidigen, Garnet, daß ich Ihnen Mitgefühl zeige«, sagte er; »Sie sind zu gut, um Mitleid entgegenzunehmen. Aber es ist trotzdem so: Es tut mir leid, daß Sie in eine Situation verwickelt wurden, die Sie nicht verdient haben.«
Sie trocknete ihre Tränen an seinem Tuch. Seine Stimme war so ruhig, und es ging eine so feste Sicherheit von ihm aus, daß sie sich über seinen Worten beruhigte. Sie zerknüllte das rote Taschentuch in der Faust und suchte seinen Blick. Fast überrascht stellte sie fest, daß sie ebenfalls ruhig und scheinbar sicher zu sprechen vermochte.
»Wann haben Sie von dem Unglück erfahren?« fragte sie.
»Auf dem Wege von Kerridges Ranch nach hier. Ich kehrte auf Don Rafael Velascos Ranch ein, weil ich Wasser für die Tiere brauchte. Hilfe dieser Art ist selbstverständlich in Kalifornien; sie wird auf jeder Ranch gewährt. Don Rafaels Leute ließen meine Pferde im Bach trinken, forderten mich dann aber auf, die Ranch unverzüglich zu verlassen und fortzureiten. Don Rafael habe angeordnet, daß zukünftig kein Amerikaner mehr seine Ranch betreten dürfe. Die Männer sagten, er sei halb von Sinnen. Carmelita war sein einziges Kind.«
Garnet zerrte an dem roten Taschentuch. »Haben Sie es Oliver erzählt?« fragte sie nach einer Weile.
»Ja«, versetzte John, »ich sagte es ihm.«
Garnet biß sich hart auf die Lippen. »O John!« stöhnte sie, »was kann ich nur tun?«
»Nichts, was sie nicht schon ohnehin täten«, antwortete John. »Sehen Sie zu, daß Oliver mit Ihnen fortgeht. Er liebt Sie sehr, und er wird willentlich in seinem ganzen Leben keinem Menschen ein Leid zufügen. Er hat nur zeit seines Lebens Befehle von seinem Bruder entgegengenommen. Ist er Charles’ Einfluß erst einmal entzogen, wird er Ihnen ein guter Ehemann sein.«
John erhob sich. Garnet erinnerte sich nicht, je im Leben einem Manne begegnet zu sein, von dem eine solche Welle sicherer, in sich selbst ruhender Kraft ausgegangen wäre. Er sagte: »Ich werde nun nie wieder auf diese Angelegenheit zu sprechen kommen, es sei denn, Sie selbst bäten mich darum.« Er warf ihr ein kurzes Lächeln zu, wandte sich ab und ging mit ruhigen Schritten davon. »Ich habe verdammt viel Achtung vor Ihnen, Garnet«, sagte er noch, schon halb auf dem Wege.
Während er sich dem Herrenhaus zuwandte, saß Garnet regungslos im Gras. Sie biß zitternd vor Schmerz und Grimm in John Ives’ rotes Taschentuch. Was werde ich noch aushalten müssen! dachte sie. Carmelita und ihr Kind waren tot, und der unglückliche Vater war halb wahnsinnig vor Jammer und Schmerz. Sie selbst aber erwartete ein Kind und hatte niemand, dem sie es sagen konnte. Dabei war sie unruhig; sie litt dann und wann unter körperlichen Beschwerden, von denen
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