Kalifornische Sinfonie
sie nicht wußte, ob sie harmloser Art waren oder Anlaß zu Befürchtungen boten. Wie dem auch sei: Sie würde nach Hause ziehen. Oliver hatte es ihr fest versprochen. Er hatte seinem Bruder seinen Anteil an der gemeinsamen Besitzung urkundlich übereignet und einen großen Teil des Winters damit zugebracht, Vorbereitungen für den großen Treck zu treffen. Außer den Mauleseln mußte ja auch für ausreichenden Proviant und allerlei unentbehrliche Bedarfsartikel gesorgt werden. Nur noch ein paar Wochen, dann würde sie sich wieder auf dem Wege nach Osten befinden. Sie würde wieder auf dem Wege zu Vater und Mutter sein und zu all den tausend festen und beständigen Dingen, die die Heimat ausmachten.
Ob Oliver mir überhaupt sagen wird, daß Carmelita tot ist? dachte sie. Aber sie wußte: er würde es nicht. Er würde der Meinung sein, es sei leichter für sie, wenn sie nichts davon wüßte.
Garnet hob langsam den Kopf. Sie sah in die blühende Pracht der Orangenbäume, sie sah die weißglitzernden Gipfel der fernen Berge und die wogenden blaugoldenen Blumenteppiche an den Hängen. Sie begriff, warum John die Erde liebt. Felsen und Gebirge enttäuschten einen Menschen nicht; es lag außerhalb ihrer Möglichkeiten. Die Wüste war grausam und hart, aber sie lebte aus ihrem Gesetz, es war eine klare und ehrliche Grausamkeit, mit der man fertig werden konnte. Die Wüste versprach einem nicht Rosen und Wasserfälle, um dann mit Sand und Steinen zu dienen. Das taten nur Menschen. Nur Menschen wie Oliver.
John war anders. John erinnerte sie an die Wüste: Er versprach nichts, aber dann war er plötzlich wie ein rauher Felsen, der eine verborgene Quelle hütete. Und das Wasser, das diese Quelle spendete, war kostbarer als jedes andere Wasser, das man daheim mühelos haben konnte, eben weil man seiner so dringend bedurfte.
Oliver gab sich freundlich und rücksichtsvoll wie immer, aber es war, wie Garnet vorhergesehen hatte: er erwähnte ihr gegenüber Carmelita mit keinem Wort. In Charles’ Gegenwart sprach er überhaupt nie mit ihr, wenn er es irgend vermeiden konnte; daran war sie nun schon gewöhnt. Sie war fast immer allein. Sie wanderte im Freien, erfreute sich an den Blumen oder breitete ihren Schal auf dem Grase aus und legte sich nieder, um in das wechselnde Licht auf den Berghöhen zu blicken.
Zuweilen trat John an ihre Seite und ging mit ihr über die Ranch. Er sprach nie mehr von ihren eigensten Angelegenheiten. Dafür zeigte er ihr die verschiedenen Pflanzen: die kleinen weißen Creosotblumen, die wilden Tabakstauden, deren Blüten wie kleine Trompeten aus altem Gold aussahen, den gemeinen Stechapfel, dem die Digger einen Saft zu entziehen wußten, der Menschen in den Wahnsinn trieb und zuweilen tötete. »Der Stechapfel blüht jetzt noch nicht«, sagte er; »später wird er Ihnen auffallen; er hat wundervolle große lavendelfarbige Blütenblätter.«
Eines Morgens wies er ihr die Schoten von jungem Anis, die wie kleine grüne Straußenfedern aussahen. Auf seinen Rat schnitten sie eine Anzahl Schoten ab, gingen damit zu einem der im Freien brennenden Küchenfeuer, erbaten sich einen Topf und ließen den Anis im Wasser leicht aufkochen. Sie aßen ihn dann zusammen mit hartgekochten Eiern, die sorgfältig in Scheiben geschnitten wurden. Der Anis hatte einen eigenartig herbsüßen Geschmack.
Garnet litt in der Regel unter Appetitmangel. Das Essen am gemeinsamen Tisch unter den harten, unheilvoll blickenden Augen von Charles war keine Freude. Oliver trug eine erzwungene und gekünstelte Heiterkeit zur Schau; es wurde kaum gesprochen. Jetzt aber saß sie mit John Ives auf der Erde, aß Anisschoten und hartgekochte Eier, und es schmeckte ihr so gut, daß sie sogar die Schüssel auskratzte. »Es schmeckt wunderbar«, sagte sie, »warum bekommen wir das nicht bei Tisch?«
In Johns grünlichen Augen glitzerte ein Anflug von Schalk. »Ich vermute, Charles hält nichts davon, Unkraut zu essen«, versetzte er. »Aber nachdem ich sehe, daß Ihnen der Anis schmeckt, werden wir morgen etwas von dem wilden Senf schneiden; ich denke, das wird Ihnen auch munden.«
Er ließ sie dann allein zurück. Garnet sah ihm gedankenverloren nach. Sie dachte: Wenn er doch wieder mitkäme bis Santa Fé!
Sie pflückte sich eine Handvoll Mohnblumen und trug sie in ihr Zimmer. Nachdem sie den Strauß geordnet und in einen Krug mit Wasser gestellt hatte, trat sie an das Fenster und sah hinaus auf die kahlen, nüchternen Ranchgebäude mit
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