Kalifornische Sinfonie
fielen ihr plötzlich die Worte ein, die Texas auf der Ranch Don Antonios zu ihr gesprochen hatte: »Geben Sie sich keine Mühe, uns zu verstehen, Miß Garnet. Wir sind eine Rotte verlorener Seelen.«
Sie sah auf das winzige, rosige Etwas, das neben ihr in einem Körbchen lag. Das war Stephen Hale, nach Stephen Austin genannt. Und sie fragte sich, was Texas wohl erlebt haben mochte seit der Zeit, da er als elfjähriger Junge seinem Helden gefolgt war. Sie fühlte, wie ihre Augen zu brennen begannen. Vielleicht war es töricht, um etwas Vergangenes zu weinen, aber sie konnte sich nicht helfen. Sie wußte seit langem, daß Texas in medizinischen Dingen kein Amateur war. Er hatte ihr Kind geholt, er hatte ihr vorher und nachher gesagt, was sie tun müsse, und war in den vergangenen Tagen ständig in intimster Weise um sie bemüht gewesen. Bei alledem hatte er sich weder unsicher noch selbstbewußt gezeigt. Er packte alle diese Dinge mit der ruhigen Sicherheit eines Mannes an, der seine Sache versteht. Sie war überzeugt: irgend etwas hatte Texas aus seiner vorgezeichneten Bahn geworfen.
Garnet mußte viel über diese Dinge nachdenken. Alles, was sie wußte, war, daß Texas hier allein war, an einem Ort, an dem er nichts zu suchen hatte, allein, ohne Familie, ohne Freunde, ja sogar ohne Namen, nun auch noch ein Krüppel, der kaum jemals wieder imstande sein würde, mit dem HändlerTreck nach Santa Fé zu reiten. Sie dachte auch an die alkoholischen Exzesse, in die er immer wieder verfiel. Vielleicht flüchtete er sich immer dann in den Rausch, wenn er glaubte, Einsamkeit und Verlassenheit nicht länger ertragen zu können. Wie soll ein Mensch leben, wenn nirgendwo ein anderer ist, der sich um ihn kümmert?
Gut, dachte sie, ich kümmere mich um ihn. Ich werde nie vergessen, was er in der Nacht vor Stephens Geburt an mir tat. Solange Texas und sie in der gleichen Welt lebten, würde Texas einen Menschen haben, der zu ihm hielt!
***
Am 13. August – Stephen war fünf Tage alt – trafen die Amerikaner in Los Angeles ein.
Texas schichtete Decken auf die Wandbank und baute dort so etwas wie ein warmes Nest, damit Garnet am Fenster sitzen und dem Einmarsch der Truppen zusehen konnte. Es waren Matrosen und US-Marinetruppen, die da unter dem Kommando von Kommodore Stockton heranmarschiert kamen. Ihnen folgte das Bataillon Frémont, bestehend aus den Männern der Forschungsexpedition und aus Freiwilligen, die sich Frémont oben im Norden angeschlossen hatten. Die Sternenbanner flatterten und die Musik spielte amerikanische Märsche. Die Angelesen standen interessiert und auch ein wenig verwirrt an den Ecken und die Yankees lachten, brüllten »Hurra!« und schrien den Soldaten Grüße der Begeisterung zu. Hier wie überall in Kalifornien dachte kein Mensch an Widerstand. Die Señores Pico und Castro waren nach Mexiko geflohen. Und zwar waren sie getrennt und unabhängig voneinander geflohen, denn sie hatten so lange und so erbittert miteinander gestritten, daß nicht einmal eine fremde Invasion sie zusammenbringen konnte.
Garnet fühlte sich von einer Gänsehaut überlaufen, als sie die blauen Uniformen und die bekannten Fahnen mit Sternen und Streifen erblickte, die sie so lange nicht gesehen hatte. Oh, mein Gott!, dachte sie und streckte unwillkürlich die Hand nach dem neben ihr stehenden Körbchen aus, ob Stephen sein Land wohl jemals so lieben wird, wie ich es in diesem Augenblick liebe? Nein, dachte sie, nein, so kann er niemals empfinden, es sei denn, auch er befände sich eines Tages irgendwo fern von der Heimat in der Verbannung.
Dann war die Parade vorüber. Die Menschen zerstreuten sich. Einige eilten nach der Plaza, um dem Hissen der Flagge zuzusehen, andere wandten sich den Tavernen zu, um Erfrischungen zu sich zu nehmen, nachdem sie so lange in der Sonne gestanden hatten. Garnet hörte das Klappern und Klirren der Becher und Flaschen aus der Bar heraufdringen, lärmende Stimmen und dazwischen die fröhlichen Klänge der Militärkapelle, die auf der Plaza den Yankee Doodle spielte.
Ihr Rücken begann zu schmerzen. Sie wandte den Kopf, um Texas zu sagen, daß sie sich gern wieder hinlegen möchte.
Aber Texas war nicht da. Garnet war so in die Vorgänge auf der Straße vertieft gewesen, daß sie gar nicht bemerkt hatte, daß Texas hinausging. Aber eben jetzt vernahm sie seine ungleichmäßig tappenden Schritte auf der Treppe. Sie verloren sich unten; offenbar ging er durch die Küche in die Bar.
Garnet
Weitere Kostenlose Bücher