Kalifornische Sinfonie
sie sah ihn nicht. Offenbar war er unter den Olivenbäumen zurückgeblieben. Ach, lieber Gott! dachte sie, wenn ich ihn doch nie mehr sehen müßte!
***
Sie war froh, Florinda nicht in dem gemeinsamen Schlafzimmer vorzufinden. Garnet warf sich vor dem Bett in die Knie und vergrub den Kopf in den Kissen. Sie fühlte sich matt und schlaff wie selten in ihrem Leben. Nach einem Weilchen vernahm sie die hallenden Schläge des Gongs, der zum zweiten Frühstück rief. Sie achtete nicht darauf. Sie war erschöpft, als hätte sie einen tagelangen Ritt durch steinige Gebirgspässe hinter sich. Kurz vor Mittag erschien Florinda im Zimmer. Florinda war ausgeritten; ihr Haar war vom Wind zerzaust, und ihre Wangen strahlten vor Frische. Sie sah so bezaubernd aus, und ihre Augen leuchteten so hell vor Frohsinn und Freude, daß Garnet sich versucht fühlte, ihr auch ins Gesicht zu schlagen. Florinda zog ihre Schuhe aus und warf sie auf die Wandbank. Dann kam sie zu Garnet herüber und legte ihr die Hand auf die Schulter.
»Garnet, Liebe«, sagte sie, »es tut mir leid.«
Garnet sah verwirrt auf. »Woher weißt du –?«
»Ich weiß nichts. Wenigstens nichts Genaues. Aber er hat dich gekränkt; ist es nicht so?« Garnet hatte das Gefühl, ihre Kehle sei zugeschnürt; sie konnte nicht antworten. Florinda sagte: »Sprich nicht darüber, wenn es dir schwerfällt. Im übrigen ist es ganz klar: Du bist leider so sehr dafür geeignet, gekränkt zu werden.«
Garnet lächelte sie ein bißchen schief an. Nachdem der Druck in ihrer Kehle etwas nachgelassen hatte, sagte sie: »Du hast ja versucht, es mir zu erklären.«
»Ja, allerdings.«
»Wie konntest du überhaupt darauf kommen, er könnte mich gekränkt haben?«
»Lieber Gott, du warst so strahlend glücklich, daß jedermann es sehen konnte. Und John sieht aus wie ein Haus mit verschlossenen Türen und Fensterläden.« Sie ließ den Blick über Garnets Gestalt gleiten. »Du hast Grasflecke auf dem Kleid.«
»Ich bin ausgeglitten und gefallen.«
»Ich hatte mir gedacht, daß du ein Weilchen allein bleiben wolltest. Darum bin ich so lange wie möglich draußen geblieben. Aber du mußt nun zum Essen kommen. Soll ich dir ein anderes Kleid herausnehmen?«
Garnet sagte, sie wolle überhaupt nicht zum Essen kommen. Aber Florinda bestand darauf.
»Wenn du anfängst, von der Tafel wegzubleiben, wird Doña Manuela meinen, du seiest krank«, sagte sie. »Und wenn Doña Manuela das erst meint, dann mag dir der Himmel helfen. Ich habe es erfahren. Du läufst übrigens keine Gefahr, John in den Weg zu laufen. Ich sah ihn fortreiten vorhin, zu den Bergen hinüber. Er ritt, als säßen ihm sieben Geister im Nacken.«
***
Garnet ging mit zum Speisezimmer, und als sie einmal dort saß, konnte sie auch essen, wie sie zu ihrer Überraschung feststellte. Danach fühlte sie sich sehr viel besser. Schließlich hatte sie ja auch außer der Tasse Schokolade in der Morgenfrühe noch nichts zu sich genommen. Nachher war sie überzeugt, nicht schlafen zu können; aber um nicht von Florinda für eine dumme Gans gehalten zu werden, legte sie sich neben ihr hin, und die lange Gewöhnung an den Mittagsschlaf ließ sie schließlich auch einschlafen. Als sie erwachte, hatte sich ihr Gemüt weitgehend beruhigt. Sie fühlte sich immer noch verwirrt, sie empfand immer noch den Schmerz der ihr angetanen Kränkung, aber sie kam sich doch nicht mehr vor wie eine gespannte Violinsaite.
Während sie schlief, hatte es zu regnen begonnen. Und es war so kalt im Zimmer, daß die Frauen, anstatt sich anzukleiden, die Decken fester um die Knie schlangen. Da die Fenster keine Glasscheiben hatten, mußten sie die Läden schließen und Kerzen anzünden. Florinda beschäftigte sich damit, einen frischen Kragen an ihr Kleid zu nähen. Sie achtete sehr sorgfältig auf ihre Kleidung, aber sie verrichtete sämtliche Näharbeiten in ihrem Schlafzimmer, weil sie mit Handschuhen nicht nähen konnte und weil gerade Näharbeit unwillkürlich alle Blicke auf die Hände lenkte.
Sie hatte Garnets Vertrauen nicht erbeten, aber Garnet verlangte jetzt selbst nach einer Aussprache. Und während draußen ununterbrochen der Regen rieselte, berichtete sie Florinda das Wesentliche von ihrem mit John geführten Gespräch. Florinda lauschte und war offensichtlich voller Mitgefühl, doch war sie gleichzeitig auch sehr verwirrt. »Aber, Garnet, ich verstehe nicht«, sagte sie. »Er war also bereit, dich zu heiraten? Ich hatte nämlich befürchtet,
Weitere Kostenlose Bücher