Kalix - Die Werwölfin von London
nüchtern bleibt?«
Die Herrin der Werwölfe nickte.
»Das sehe ich auch so. Ein Manager könnte genau das sein, was sie brauchen.
Nicht unproblematisch, schließlich wäre es zu gefährlich, wenn ihnen jemand zu nahe käme, der selbst kein Wer
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wolf ist. Ich bin sehr besorgt, sie könnten sich verraten und die Avenaris-Gilde auf sich aufmerksam machen. Aber ich werde darüber nachdenken, wer für diese Aufgabe passend wäre.«
Es klopfte an der Tür, und ein Diener kündigte Dominil an. Verasa bemerkte, dass ihr Sohn sich zu seiner vollen Größe aufrichtete, als Dominil den Raum betrat. Das war nur natürlich. Wenige männliche Werwölfe konnten dem Drang widerstehen, sich von ihrer besten Seite zu zeigen, wenn sie die eisige Schönheit sahen.
5°
Tupans Tochter Dominil besaß einen messerscharfen Verstand und ein kühles Auftreten. Ihre Stimme klang nicht schroff, hatte aber den warmen schottischen Akzent des Clans verloren. Dominil hatte ihn sich vor einigen Jahren in Oxford abgewöhnt, wo sie Altphilologie und Philosophie mit Bestnoten abgeschlossen hatte. Durch ihr akzentfreies Sprechen fiel Dominil in der Burg auf, aber mit ihren hohen Wangenknochen, großen, dunklen Augen und dem langen, schneeweißen Haar wäre sie überall aufgefallen. Sie war schlank, so wie alle Mitglieder ihrer Werwolfgeneration, aber ein wenig größer und deutlich unterkühlter. Verasa konnte sich noch an den Tag erinnern, an dem Dominil mit sieben Jahren im Wald hingefallen war und sich das Bein gebrochen hatte.
Sie hatte sich strikt geweigert zu weinen und war nicht einmal zusammenge-zuckt, als Dr. Angus MacRinnalch den Bruch untersucht hatte, obwohl es sicher schmerzhaft war.
Diesem Muster war Dominil ihr Leben lang gefolgt. Sie zeigte keine Freude, als sie in Oxford zugelassen wurde, und wirkte auch nicht auffallend glücklich, als sie cum laude abschloss. Nichts
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schien in ihr starke Gefühle hervorzurufen. Jüngere Werwölfinnen waren es gewohnt, wegen ihrer Schönheit angestarrt zu werden, aber bei Dominil war es extrem. Wenn sie groß, weißhaarig und strahlend schön die Straße entlangging, starrte ihr jeder nach. Was Dominil davon hielt oder ob sie es überhaupt bemerkte, wusste niemand. Wie auch niemand wusste, was Dominil sonst dachte. Sie hatte ihre Jugend in der Burg verbracht, war nach Oxford gegangen, vier Jahre später zurückgekehrt und verbrachte jetzt die meiste Zeit in ihren Räumen im Ostflügel, mit ihren Büchern und ihrem Computer. Soweit man wusste, besaß sie keine Freunde. Sie schien ihrem Vater Tupan nahezustehen, aber falls zu dieser Nähe auch so etwas wie Wärme gehörte, bekamen Außenstehende sie nicht zu sehen.
Gerüchten zufolge hatte sie eine Affäre oder zumindest ein Techtelmechtel mit Sarapen gehabt. Mittlerweile konnten sie sich nicht mehr ausstehen, aber Dominil schienen Sarapens häufige Besuche in der Burg kein Unbehagen zu bereiten.
Verasa wusste zumindest zum Teil, wie es um Dominus Vorlieben stand. Wenig von dem, was in der Burg und ihrer Nähe geschahen, blieb vor ihr verborgen.
Zum Beispiel wusste Verasa, dass Dominil sich in Oxford mehrere menschliche Liebhaber genommen und diese Praxis fortgesetzt hatte, als sie wieder zu Hause war. Dominil war mit mehreren Männern aus den umliegenden Städten vorübergehende Beziehungen eingegangen. Sie sprach nicht darüber, und für alle bis auf die neugierige Verasa war es ein Geheimnis. Die Herrin der Werwölfe fragte sich manchmal, was für eine Art von Beziehung Dominil mit den jungen Männern eingegangen war. Sie hatte zwar nichts darüber gehört, dass einer von ihnen gestorben wäre, aber ein paar von ihnen waren verschwunden. Ihre Familien glaubten, sie hätten die Gegend verlassen, aber Verasa überlegte, ob ihre Knochen nicht vielleicht irgendwo auf dem Land der MacRinnalchs auf dem Grund eines Moores lagen.
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Markus war einige Jahre älter als Dominil. Sie waren sich nicht nahe, verstanden sich aber recht gut. Er begrüßte sie freundlich, erkundigte sich nach ihrem Befinden und ging dann zu Thrix, wie seine Mutter ihn gebeten hatte.
Markus gefiel es zwar nicht besonders, von einem Treffen ausgeschlossen zu werden, aber es missfiel ihm auch nicht allzu sehr, dem Smalltalk mit Dominil zu entgehen. Ihre Gegenwart wirkte auf ihn sehr anstrengend. Manchmal hatte er den Eindruck, sie würde auf ihn herabschauen. Andererseits konnte Dominil auf jeden herabschauen.
Dominil ließ sich von Verasa ein Glas Wein
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