Kalix - Die Werwölfin von London
vollgestopft hatte. Jetzt übergab sie sich, aber ob gewollt oder ungewollt, wusste Moonglow nicht.
»Sieht das aus wie bei deiner bulimischen Cousine?«, flüsterte sie Daniel zu.
Daniel schüttelte den Kopf. So etwas Heftiges hatte er noch nie gesehen.
Kalix griff in ihre Tasche und holte ihre Laudanumflasche hervor. Es waren nur wenige Tropfen übrig. Sie trank sie rasch aus. Kalix war mit dem Gedanken wach geworden, dass sie in der vergangenen Nacht viel mehr gegessen hatte als in den letzten Jahren. Die Menschen hatten sie mit Fleisch und Pizza und Pop-Tarts und wer weiß was noch vollgestopft, und als ihr klar wurde, was 130
sie alles zu sich genommen hatte, trieb sie diese Erkenntnis in eine schreckliche Panikattacke. Sie hatte nicht mehr genug Laudanum, um sie unter Kontrolle zu bringen, und jetzt hatte die junge Werwölfin das Gefühl, ihr Verstand würde in winzige Splitter zerbrechen. Plötzlich kam es Kalix so vor, als würden die Wände immer näher aneinanderrücken, und da wusste sie, dass sie dieses Haus verlassen musste. Sie schnappte sich ihre Tasche und ihren Mantel und lief Richtung Tür.
»Bitte geh nicht -«, sagte Moonglow und wollte sich ihr in den Weg stellen.
Kalix schlug Moonglow so fest, dass sie gegen die nächste Wand krachte.
»He!«, protestierte Daniel, aber Kalix war schon verschwunden. Er lief zu Moonglow, um ihr aufzuhelfen. Mit verzerrtem Gesicht rieb sie sich die Schulter.
»Das hat richtig wehgetan. Sie ist unheimlich stark.«
Sie sahen sich um. In ihrem Wohnzimmer herrschte ein unglaubliches Durcheinander, und der Boden und Kalix' ganze Decke waren feucht.
»Werwolfkotze«, sagte Daniel angewidert.
Moonglow wusste nicht, worüber sie sich am meisten aufregte. Über Kalix'
Krankheit, darüber, dass Kalix sie geschlagen hatte, oder darüber, dass sie gegangen war.
»Sie hätte mich doch nicht schlagen müssen. Sie hätte hierbleiben sollen, es geht ihr nicht gut.«
»Sieh es ein, Moonglow, diese Werwölfin ist eine einzige Katastrophe.«
Moonglow wischte sich eine Träne weg. Das war alles so traurig. »Aber letzte Nacht war sie doch netter. Wir haben uns richtig gut verstanden.«
Das musste auch Daniel zugeben. »Glaubst du, sie kommt zurück?«
Daniel zuckte mit den Schultern. Davon ging er nicht aus. Er hatte auch keine Lust, noch einmal nach ihr zu suchen. Wenn sie
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von ihnen keine Hilfe annehmen wollte, konnten sie ihr die Hilfe auch nicht aufzwingen. Außerdem wurde es langsam gefährlich. Er hatte gesehen, wie Kalix Moonglow zur Seite gestoßen hatte, und er wusste, dass sie sich nicht unter Kontrolle hatte. Kalix war so stark und wild, dass es in ihrer Nähe nicht sicher war.
»Vielleicht hast du recht«, sagte Moonglow. Die ganze Angelegenheit hatte sie schrecklich deprimiert, und nicht einmal die Aussicht auf ihr Seminar über sumerische Keilschrift, das zu ihren Lieblingskursen gehörte, konnte sie aufmuntern.
»Wenigstens hat sie jetzt das Amulett. Damit ist sie vor ihrer Familie sicher.
Und vor den Werwolfjägern.«
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Es war schlicht Pech, dass Kalix der Avenaris-Gilde in die Arme lief. Mit ihrem neuen Amulett konnte sie von Jägern nicht mehr wahrgenommen werden, auch nicht von ihren abgerichteten Hunden. Es sorgte dafür, dass sie keinen Werwolfgeruch ausströmte und niemand erkennen konnte, dass sie kein Mensch war. Die Gilde setzte normalerweise keine Zauberei ein, aber einige Mitglieder waren mystisch geschult und konnten Werwölfe selbst in Menschengestalt erkennen. Nicht einmal sie konnten Kalix jetzt entdecken.
Unglücklicherweise schützte das Amulett Kalix nicht davor, von einem Jäger erkannt zu werden, der sie früher schon verfolgt hatte.
Die junge Werwölfin erreichte das Ende von Moonglows Straße, ohne überhaupt zu wissen, was sie tat. Geschüttelt von einer schrecklichen Panikattacke floh sie aus dem beengten Haus, aber draußen wurde ihr Zustand nicht besser. Die Angst brach in Wellen über sie herein, so dass sie nicht einmal mehr denken konnte.
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Kalix lief weiter, als könne sie vor sich selbst fliehen. Die Leute starrten sie an, wenn sie vorbeirannte, weil ihr im Gesicht noch Erbrochenes klebte und ihre Augen rot waren vom Weinen.
Da zurzeit so viele Werwölfe im Land unterwegs waren, liefen die Gildemitglieder verstärkt Streife. Zwischen Kennington und Vauxhall ging Kalix direkt an drei Jägern vorbei, von denen einer sie erkannte. Er hatte sie einen Monat zuvor verfolgt, bis sie ihm entkommen war. Der
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