Kalla vom Loewenclan - Abenteuer in der Steinzeit
die großen Tiere jedoch war ausschließlich den Männern vorbehalten.
»Stell dir vor«, sagte Kalla sehnsüchtig, »Frauen, dieauf die große Jagd gehen. Sie jagen Hirsche! Vielleicht sogar Bisons!«
Chani lächelte. Sie kannte Kallas heimlichen Traum, einmal an der großen Jagd teilnehmen zu dürfen. Auch sie selbst hatte Spaß am Jagen, und die beiden Mädchen hatten zusammen einmal eine junge Gämse erlegt. Doch im Gegensatz zu Kalla hatte Chani keineswegs den Wunsch, eine Jägerin zu werden.
Die Mädchen streckten sich im Gras aus. Von den Zelten des Wisent- und des Hirschclans drangen die Stimmen der Frauen herüber. Sie freuten sich über jedes Treffen und nutzten die Gelegenheit, sich Neuigkeiten zu erzählen. Darüber erhoben sich die hellen, aufgeregten Rufe der Kinder. Sie hatten sich am Fuß eines hoch aufragenden Felsenzahns versammelt und veranstalteten ein Wettklettern, und jeder Clan feuerte lauthals seine Mitspieler an.
»Wani ist ein liebes Mädchen«, sagte Chani, während sie ihre großen Zehen wackeln ließ. »Wenn Erdmutter Ama mir einmal Kinder schenkt, fände ich es schön, wenn mindestens ein Mädchen darunter wäre.«
Kalla sah bewundernd auf Chanis Füße. Niemand konnte so gut mit den Zehen wackeln wie sie, sogar die Jungen beneideten sie um diese Kunst.
»Als Gefährte würde mir Kerg vom Wisentclan gefallen«, gähnte Chani. »Oder Morut vom Wildschweinclan. Erinnerst du dich? Voriges Jahr am Blauen See. Der dünne Junge mit den schmalen Augen. Ständig hat er lustige Sachen erzählt, dass wir immerzu lachen mussten. – Und du? Wer würde dir gefallen?«
Darüber hatte sich Kalla noch nie Gedanken gemacht. Ihre Schwestern Ixi und Yonna hatten bereits im vorletztenFrühling die Frauenweihen erhalten. Ixi hatte sich bald darauf mit einem Mann verbunden, ihn jedoch kurz darauf an Ama zurückgeben müssen. Yonna hatte sich noch nicht für einen Gefährten entschieden. Zwar wurde sie viel umworben, doch war unter diesen Männern keiner, mit dem sie das Lager teilen wollte. Kalla selbst stand erst im neunten Sommer, und der einzige Mann, den sie von Herzen gern hatte, war – außer dem großen Irinot – ihr Spielgefährte und Freund Tomo.
Tomo! Mit einem Ruck setzte sich Kalla auf.
»Ich muss Tomo suchen!«, rief sie und sprang auf. »Kommst du mit? Das heißt –« Ihr Blick fiel auf den Wassersack, der neben ihr lag. »Erst muss ich Blaga noch Wasser bringen. Das habe ich ganz vergessen, sie hatte mir aufgetragen, welches zu holen.«
Wenig später erreichten die Mädchen Blagas Höhle. Respektvoll blieben sie am Eingang stehen, denn die Höhle der Heilerin betrat man nur auf deren ausdrückliche Aufforderung. Drinnen sahen sie Blaga und Nomit an Tavilanas Lager sitzen. Der Kranken schien es schlechter zu gehen. Sie hustete und wälzte sich unruhig hin und her. Nomit versuchte ihr eine Flüssigkeit einzuflößen, während Blaga einen glühenden Holzspan in eine Schale mit Kräutern legte. Kleine Rauchwolken stiegen auf und erfüllten die Höhle mit einem bitteren harzigen Geruch.
Verstohlen sahen sich die Mädchen um. Der Höhleneingang teilte sich und führte in zwei große Räume. Der linke diente als Unterkunft für die Schwerkranken, die ständiger Betreuung bedurften, und für Frauen, bei denen Blaga eine schwierige Geburt voraussah. Die rechte Höhle war Blagas Arbeitsraum. Vieles an der Ausstattung war den Mädchen aus den anderen Höhlen vertraut, zumBeispiel die steinerne Ama-Figur, die auf einem Steinsims nahe am Eingang stand. Direkt vor der Höhle befand sich ein offenes Herdfeuer. Daneben war eine Kochgrube, die mit der Haut eines Rentiermagens ausgelegt war.
Im Übrigen jedoch unterschied sich die Höhle einer Heilerin in vieler Hinsicht von den anderen Höhlen. Den Ledertopf etwa nutzte Blaga überwiegend, um Kräuterwasser zu kochen und Arzneimittel zuzubereiten. Dazu mussten Kräuter zerrieben, Baumrinden zerstampft und Öle erhitzt werden, die dann zu Salben, Tinkturen und Brei vermischt wurden. Für sich selbst kochte Blaga höchstens Suppe, denn sie wurde – wie Loas – von den anderenClanfrauen regelmäßig mit Essen versorgt. Wie der Seher stellte auch die Heilerin all ihre Kräfte in den Dienst ihres Clans. Als Medizinfrau und Hebamme war sie für alle Unpässlichkeiten, Unfälle und Krankheiten zuständig. Zum Dank für ihre Arbeit brachten ihr die Clanleute Kleidung und andere lebensnotwendige Dinge, außerdem bekam sie viele
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