Kalla vom Loewenclan - Abenteuer in der Steinzeit
Leben gerettet. Wir sind es ihm schuldig, ihn anzuhören. Danach werden wir entscheiden, ob er das Recht hat, ein Mitglied unseres Clans für sich zu fordern. Denn das Gesetz Leben gegen Leben, von dem der Fremde spricht, gilt auch bei uns.«
Loas und Ubruk, die die ganze Zeit sitzen geblieben waren, erhoben sich.
»Es ist aber nicht Männersache, dies zu entscheiden«, sagte Loas. »Das Gesetz Leben gegen Leben ist eine Angelegenheit, die vor dem großen Clangericht entschieden werden muss.«
»So ist es«, bekräftigte der alte Ubruk.
Das Gesetz Leben gegen Leben besagte, dass einer, der einem anderen das Leben gerettet hatte, das Recht besaß, aus dessen Clan ein Leben zu fordern. Allerdings gab es gewisse Einschränkungen. Ausgeschlossen waren der Anführer des Clans, der Seher und die Heilerin sowie Kinder und schwangere Frauen und alle Personen, auf die ein anderer ältere Rechte hatte.
Weil dieses Gesetz also den gesamten Clan betraf, musste die Sache vor dem großen Clangericht entschieden werden.
»Das Clangericht wird heute Abend stattfinden«, bestimmte Irinot.
In diesem Moment setzte drüben bei den Felsterrassen der klagende Gesang eines Frauenchores ein.
Irinot wandte den Kopf.
»Wir treffen uns nach Sonnenuntergang«, fuhr er fort. »Drüben am Bärenfelsen, bei Toroks Baum. Bis dahin werden die Fremden behandelt wie Gäste – Flauko und Tavo, bringt ihnen Wasser und etwas zu essen.«
Alle nickten schweigend.
Währenddessen wurde der Gesang lauter und lauter. Dann mischten sich plötzlich die hellen kräftigen Schreie eines Kindes in den monotonen Gesang.
Der Trauergesang galt Tavilana, die den Weg zum Schwarzen Fluss angetreten hatte. Die Schreie stammten von Ixis neugeborenem Kind.
Es war ein Mädchen, und es erhob seine Stimmegenau in jenem Moment, als Tavilana den letzten Atemzug tat. Alle waren überzeugt, dass sich die Wege der beiden Seelen gekreuzt hatten und dass Tavilanas Seele im Körper des Neugeborenen in den Löwenclan zurückgekehrt war.
Und so begrüßte Irinot den Neuankömmling wenig später mit den Worten: »Sei gegrüßt, neue Frau im Löwenclan, die du unter dem Schutz des Fischgeistes stehst. Dein Name sei Sivilana.«
W
ie die Erdmutter es ihm befohlen hatte, geleitete der Höhlenbär die Verstorbenen zum Schwarzen Fluss, wo sie auf einem Boot ins Land der Ahnen fuhren. Aber wie sollten ihre Seelen, wenn sie sich gewandelt hatten, wieder zurück ins Sonnenreich gelangen?
Er fragte Erdmutter Ama um Rat, doch sie sprach: »Die Seelenwandlung ist nicht Sache der Erde, sondern des Wassers. Geh und bitte den Geist des Wassers um Hilfe.«
So ging der Höhlenbär zum Wassergeist. Der dachte lange nach, dann sagte er: »Die einzigen Wesen, die in Erdgestalt von der Sonnenwelt bis zu den Wassern des Schwarzen Flusses gelangen, sind die Fische. So will ich also die Fische zu den Trägern der Seelen machen. Jeder Fisch wird eine verwandelte Seele in sich aufnehmen und in die Bäche und Flüsse der Sonnenwelt hinauftragen.«
So geschah es.
Die Fische wurden zu den Trägern der verwandelten Seelen.
Und jedes Mal, wenn oben im Sonnenreich ein Fisch aus dem Wasser springt und in die Höhe schnellt, kehrt eine Seele in die Sonnenwelt zurück.
DAS CLANGERICHT
D er Bärenfelsen lag westlich vom Roten Felsen, am Fuß eines niedrigen, flach auslaufenden Hügels. Hier lagen, kreuz und quer übereinandergestapelt, riesige felsige Geröllbrocken. Dazwischen verbargen sich zahlreiche Nischen und Spalten, aus denen ein Gewirr von Disteln, Lattichen und Kamillenkraut quoll, das Mäusen und Zieseln als Unterschlupf diente. Einer der Steinbrocken überragte die anderen: ein dunkles Ungetüm, das an einen stehenden Bären erinnerte und dem Felsen seinen Namen verlieh. Am Fuß dieses Felsens erhob sich Toroks Baum. Der Boden war von dichten Matten aus Moos und Flechten überzogen. Aus einer Felsspalte sickerte eine winzige Quelle. Sie schlängelte sich hinüber zum Wasserfall und ergoss sich dort in den Otterbach.
Als die Sonne zu sinken begann, kamen von den Felsterrassendie Leute vom Löwenclan herübergewandert. Langsam und feierlich schritten sie hintereinander her. Die Einberufung des Clangerichts war ein höchst ungewöhnliches Ereignis. Normalerweise wurden alle Entscheidungen, die den Clan betrafen, in den Männerversammlungen geregelt. Doch es gab einige Beschlüsse, die die Anwesenheit aller Clanmitglieder erforderten; etwa wenn es sich um ein besonders schweres
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