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Kalle Blomquist

Kalle Blomquist

Titel: Kalle Blomquist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Lindgren
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Anders zaudern sah.
    »Hier naht einer, der dein Herzblut sehen will«, sagte er zartfühlend. »Du hast doch nicht etwa Angst?«
    »Angst?« schrie Anders und bedachte sich nicht länger. Mit ein paar schnellen Schritten war er wieder draußen auf der Mauer. Ein Zurück gab es jetzt nicht mehr. Mindestens fünfzig Meter mußte er an der grauenhaften Tiefe entlangbalancieren.
    Er versuchte, nicht hinunterzusehen, sah nur den Mauerpfad entlang, der sich wie ein Silberband im Mondlicht ausstreckte.
    Ein sehr langes Silberband – und sehr schmal. Plötzlich so be-
    ängstigend schmal! Hatte er deshalb so ein weiches Gefühl in den Beinen?
    Gern hätte er sich umgedreht, um zu sehen, wo Sixtus war.
    Aber er getraute es sich nicht.
    Jetzt war es auch nicht mehr nötig, denn jetzt hörte er Sixtus’
    Atemzüge dicht hinter sich. Sehr nervöse Atemzüge, stellte er fest. Sixtus war bestimmt ängstlich, er auch! Anders selbst schwebte jetzt in völliger Todesangst. Es war nutzlos, etwas anderes zu behaupten. Und hinten waren die anderen Rosen auf die Schutzwehr geklettert. Dort standen sie und starrten voller Entsetzen auf die Wahnsinnstat ihrer Anführer.
    »Hier naht – ei – ner, der dei – n Herzblut – se – hen will«, murmelte Sixtus. Aber seine blutdürstigen Reden hörten sich nicht mehr sehr überzeugend an.
    Anders überlegte. Natürlich konnte man noch in den Burghof springen. Das würde aber auf jeden Fall ein Sprung von drei Metern, hinunter auf unebene Steine. Man konnte sich nicht langsam und vorsichtig hinuntergleiten lassen, denn dazu wäre immer vorher auf der Mauer eine Kniebeuge nötig gewesen.
    Und Anders verspürte wirklich keine Lust, in der Nähe einer gähnenden Tiefe Kniebeugen zu machen. Nein, es gab nur eine Möglichkeit: weiterzulaufen und die Augen eisern auf die rettende Schutzwehr am anderen Ende der Mauer zu richten.
    Möglich, daß Sixtus doch gar nicht so ängstlich war. Er hatte noch etwas von seinem grausigen Humor übrig. Anders hörte dicht hinter sich seine Stimme.
    »Ich komme näher«, sagte er. »Immer näher komme ich, und bald werde – ich – dir – ein – Bein stellen«.
    Das war natürlich nicht ernst gemeint. Aber für Anders wurde es verhängnisvoll. Allein die Vorstellung, daß ihm jetzt jemand von hinten ein Bein stellen könnte, jagte ihm einen wahnsinnigen Schrecken ein. Er drehte sich halb zu Sixtus um –und wackelte.
    »Paß auf!« schrie Sixtus unruhig.
    Da wackelte Anders noch einmal – und von der Schutzwehr erklang in derselben Sekunde ein gellender Schrei. Zu ihrem Entsetzen sahen die Rosen den Weißen Chef in die Tiefe stürzen.
    Eva-Lotte hatte die Augen geschlossen. Verzweifelte Gedanken rasten durch ihren Kopf. Wo, oh, wo gab es einen Menschen, der ihnen jetzt helfen konnte? – Wer würde zu Frau Bengtsson gehen und ihr erzählen, daß Anders tot war? – Was sollten sie zu Hause sagen?
    Da hörte sie Kalles Stimme, schrill und grell vor Aufregung:
    »Seht, er hängt im Busch!«
    Eva-Lotte öffnete die Augen und starrte ängstlich in die Tiefe. Tatsächlich, dort hing Anders! Ein Busch hatte in der Berg-wand ein Stück unterhalb der Mauer Wurzeln geschlagen und hatte vorsorglich den Weißen Chef aufgefangen, als er so plötzlich in einen sicheren Tod fallen wollte.
    Von Sixtus sah Eva-Lotte zuerst nichts. Der Schreck hatte auch ihn zu Fall gebracht. Aber mit viel Geistesgegenwart hatte er sich in den Burghof fallen lassen, wo er sich zwar Knie und Hände blutig geschlagen hatte, aber am Leben geblieben war.
    Ob Anders am Leben bleiben würde, war mehr als zu bezweifeln. Der Busch bog sich beängstigend unter seiner Last. Eva-Lotte stöhnte.
    »Was machen wir? Was in aller Welt sollen wir tun?« wimmerte sie und starrte Kalle mit verzweifelten Augen an.
    Wie gewöhnlich mußte Meisterdetektiv Blomquist die Leitung übernehmen, wenn Gefahr drohte.
    »Festhalten, Anders!« schrie er. »Ich hole ein Seil!«
    In der vorigen Woche hatten sie hier oben bei der Schloßruine Lassowerfen geübt. Irgendwo mußte das Seil noch herumliegen. Es
mußte.
    »Beeil dich, Kalle!« rief Jonte, als Kalle aus der Burgpforte lief.
    »Beeil dich, beeil dich, beeil dich!« Alle schrien sie diese eigentlich überflüssige Ermahnung. Kalle konnte sich nicht mehr beeilen, als er tat.
    Unterdessen versuchte man, Anders den Mut zu stärken.
    »Sei nur ruhig«, tröstete Eva-Lotte ihn. »Bald kommt ja Kalle mit einem Seil.«
    Anders benötigte viel Trost. Seine Situation war

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