Kalle Blomquist
verpflichtet waren, dem Gegner zumindest einen Anhaltspunkt über den derzeitigen Aufbewahrungsort des Kleinods zu geben. Der Anhaltspunkt konnte ein Lageplan sein, ein schwer deutbarer und teilweise irreführender, oder ein Bilderrätsel, einfach auf einen Zettel hingeschmiert.
Dieser Fingerzeig mußte in einer dunklen Nacht in einen Briefkasten des Feindes gesteckt werden, der dann unter Aufbietung seines ganzen Scharfsinnes herausfinden konnte, daß der Großmummrich in einem leeren Krähennest oder unter einer Dachsparre auf Schuhmachermeister Bengtssons Holzspeicher lag.
Zur Zeit befand er sich an keiner der genannten Stellen. Zur Zeit befand er sich an einem ganz anderen Platz. Und einer der Hauptgründe für das neue Auflodern der Kämpfe der Rosen war, daß die Roten genau zu wissen wünschten, wo dieser Platz nun eigentlich war. Mit dem Chef der Weißen als Geisel war es sicher leicht, diesen Platz zu erfahren.
»Wir kommen bald und retten dich!« hatten sie geschrien, Eva-Lotte und Kalle. Ihr Chef konnte diese Aufpulverung bestimmt gut brauchen. Denn er wurde von starken Armen zur Folter geschleppt. Wegen des Großmummrichs und wegen der Geheimsprache.
»I choch vov e ror ror a tot e non i choch tot sos«, versicherte der Weiße Chef laut und heroisch, als man ihn an der Tür vorbeiführte, hinter der seine Waffengefährten gefangen waren.
»Warte nur, bald hast du ausgerort«, sagte Sixtus gehässig und packte ihn noch fester am Arm. »Wir werden es schon aus dir herauspressen, was das bedeutet. Keine Sorge!«
»Sei standhaft! Sei stark!« schrie Kalle.
»Halt aus! Halt aus! Wir kommen bald«, unterstützte ihn Eva-Lotte.
Und durch die Tür hörten sie die letzten stolzen Worte ihres Chefs: »Lang lebe die Weiße Rose!« Und dann: »Laß meinen Arm los! Ich folge auf Ehrenwort! Ich bin bereit, meine Herren!«
Danach hörten sie nichts mehr. Das große Schweigen breitete sich über ihr Gefängnis. Der Feind hatte das Haus verlassen –und ihren Chef hatte er mitgenommen.
VIERTES KAPITEL
Sicher hatten die Roten angedeutet, Kalle und Eva-Lotte könnten bleiben, wo sie wären, bis Moos auf ihnen wüchse. Aber das war nicht buchstäblich gemeint. Auch im Krieg der Rosen war man gezwungen, gewisse Rücksichten auf das beschwerliche und störende Element, das Eltern genannt wurde, zu nehmen. Natürlich war es ärgerlich, wenn edle Krieger ihren Kampf auf dem Höhepunkt abbrechen mußten, um nach Hause zu gehen und Koteletts und Rhabarbergrütze zu essen. Aber Eltern waren nun einmal der Meinung, Kinder müßten Mahlzeiten innehal-ten. Es war mit einberechnet im Krieg der Rosen, daß man sich diesen närrischen Elternwünschen zu fügen habe. Tat man es nicht, bestand die Gefahr bedeutend ernsterer Störungen in der Kriegführung. Eltern besaßen ein schlechtes Unterscheidungs-vermögen. Sie konnten leicht gerade an dem Abend ein Ausgeh-verbot verhängen, der ausschlaggebend für eine Schlacht um den Großmummrich war. Eltern wußten im großen und ganzen erschreckend wenig über Großmummriche, wenn auch eine Kindheitserinnerung von der Prärie manchmal wie ein zufälliger Lichtstrahl ihren verdunkelten Verstand erleuchtete.
Wenn also die Roten mit Anders loszogen und Kalle und Eva-Lotte im leeren Zimmer eines unbewohnten Hauses ein-sperrten, um sie dort Hungers sterben zu lassen, so bedeutete das nur, daß sie ungefähr zwei Stunden, nämlich bis gegen sieben Uhr, schmachten mußten. Um sieben Uhr gab es Abendbrot beim Lebensmittelhändler Blomquist, beim Bäckermeister Lisander und in all den andern Familien in der Stadt. Eine gute Weile vor diesem kritischen Stundenschlag schickte Sixtus entweder Benka oder Jonte, um in aller Stille den Eingeschlossenen die Tür wieder zu öffnen. Darum sahen Kalle und Eva-Lotte dem Hungertod mit Fassung und Würde ins Auge. Aber es war eine Schmach, auf diese Weise eingesperrt worden zu sein. Au-
ßerdem bedeutete es einen erdrückenden Punktsieg für die Roten. Und dieser Vorsprung war, nachdem sie auch den Weißen Chef gefangen und abgeführt hatten, in Wahrheit katastrophal.
Nicht einmal der Großmummrich in der Hand der Weißen konnte ihn ausgleichen.
Eva-Lotte sah den Fortziehenden verbittert aus dem Fenster nach. »Ich möchte wissen, wohin sie ihn führen«, sagte sie.
»Natürlich in Sixtus’ Garage«, antwortete Kalle und fügte hinzu: »Wenn man doch nur eine Zeitung hätte!«
»Eine Zeitung?« fragte Eva-Lotte irritiert. »Jetzt Zeitung lesen, wo
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