Kalle Blomquist
geben.«
Eine Schere lag neben dem Globus. Und als Anders sie sah, hatte er einen Genieblitz. Wenn ein Mann in der Nähe seines schlafenden Feindes war, so war es doch üblich, daß er einen Zipfel von dessen Mantel abschnitt zum Zeichen dafür, wie nahe er ihm gewesen war. So geschah es stets in alten Zeiten. Jedenfalls schrieben die Bücher davon. Das war eine hervorragende Art, dem Feinde zu zeigen, daß man ihn in der Gewalt gehabt, aber voller Edelmut Abstand davon genommen hatte, ihm etwas zu tun. Am nächsten Tag konnte man dann erscheinen und seinem Feind mit dem Mantelflicken vor der Nase herum-fuchteln und sagen: »Danke mir auf den Knien, daß du noch lebst, du elender Flegel.«
Das war genau das, was Anders tun wollte. Nun trug ja Sixtus allerdings im Bett keinen Mantel. Aber er hatte Haare, einen großen, prächtigen Schopf roter Haare. Und eine Locke von diesem Schopf gedachte Anders zu kappen. Ha, wenn dann der Tag kam, an dem der Großmummrich wieder woanders in gutem Verwahr lag, sollten die Roten zu fühlen bekommen, daß sie noch lebten! Da sollten sie die bittere Wahrheit über den Großmummrich im Globus erfahren! Und dann sollten sie diese Haarlocke sehen, die der Chef der Weißen Rosen um Mitternacht, als der Vollmond schien, von der Stirn des Häuptlings der Roten Rosen geschnitten hatte. Welch ein gigantischer Doppeltriumph!
Der Vollmond schien indessen nicht auf Sixtus’ Bett. Das Bett stand hinten an der Wand, wo es vollständig dunkel war.
Aber Anders tastete sich mit einer Hand vorsichtig näher. In der anderen hatte er die Schere. Wehrlos lag er da, der Häuptling der Roten. Da lag sein Kopf auf dem Kissen. Anders nahm mit zärtlichem, aber doch festem Griff eine Locke und schnitt sie ab.
Da gellte ein wilder Schrei durch die Stille der Nacht. Und das war kein Schrei aus einer rauhen, unebenen Stimmbruch-kehle – das war ein heller Frauenschrei!
Anders fühlte das Blut in seinen Adern einfrieren. Ein nie ge-kanntes Entsetzen ergriff ihn, und er warf sich blindlings gegen die Tür. Er sprang auf das Treppengeländer, und wie ein Blitz rutschte er abwärts. Er riß die Küchentür auf und war mit zwei Riesenschritten am Fenster. Und er sprang ins Freie mit einem so rasenden Satz, als liefen alle zur Zeit vorhandenen bösen Geister und Gespenster hinter ihm her. Nicht eher stand er still, als bis er an der Brücke war. Da mußte er etwas Atem schöpfen.
Die Locke hatte er noch immer in seiner Faust. Er hatte nicht gewagt, sie fortzuwerfen.
Japsend stand er da im Mondlicht und sah verzweifelt auf das Entsetzliche, was er in der Hand hatte. Es war nicht eine, es waren viele blonde Locken, und sie hatten einst zweifellos einer Tante gehört, gleichviel welcher. Wahrscheinlich war nur eine mit dem Frühzug abgefahren. Wer konnte das auch ahnen! Hatte er es nicht gesagt: Es war lebensgefährlich, sich in ein Haus zu wagen, wo aus jeder Ecke eine kleine Tante hervorsah.
Welche Schmach! Welche Schande! Auf den Skalp des Roten Häuptlings aus zu sein und nach Hause zu kommen mit den Locken einer blonden Tante! Anders zitterte. Das war das Schlimmste, was ihm jemals passiert war. Und er beschloß, keinem lebenden Menschen ein Sterbenswort davon zu erzählen.
Bis an das Ende seiner Tage sollte dies sein fürchterliches Geheimnis bleiben, und dann wollte er es mit hinunter in sein Grab nehmen.
Die Locken aber mußte er sofort loswerden. Er streckte die Hand über das Brückengeländer und ließ die Haare los. Und das schwarze Wasser nahm sein Geschenk schweigend entgegen. Es brodelte nur ein wenig unter dem Brückenbogen, wie es immer tat.
In der Postdirektorsvilla herrschte unterdessen wilder Auf-ruhr. Ängstlich kamen der Postdirektor und seine Frau zu Tante Ada gelaufen. Auch Sixtus kam vom Boden, wo er während des Tantenbesuchs hausen mußte, angeschossen.
Warum in aller Welt schrie Tante Ada mitten in der Nacht so laut? wollte der Postdirektor wissen. Ja, weil ein Einbrecher hier gewesen war, behauptete Tante Ada. Der Postdirektor machte im ganzen Haus Licht, überall wurde gesucht, aber von einem Einbrecher fand sich keine Spur. Das Tischsilber war noch da. Nicht ein Stück fehlte. Ja, Beppo! Er war wohl ein bißchen in den Garten gegangen, wie er es ab und zu tat. Wäre wirklich ein Einbrecher hier gewesen, hätte Beppo bestimmt Lärm gemacht, das könnte Tante Ada schon glauben. Sicher hatte sie nur einen unangenehmen Traum oder Alpdrücken gehabt – das war wohl alles. Und
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