Kalle Blomquist
sie streichelten sie tröstend und sagten, nun solle sie nur ruhig weiterschlafen. Es sei gewiß alles gut.
Als aber Tante Ada wieder allein war, konnte sie vor Unruhe nicht einschlafen. Keiner sollte sie Lügen strafen, keiner sagen, es sei niemand in ihrem Zimmer gewesen! Um sich zu beruhigen, zündete sie sich eine Zigarette an. Dann nahm sie ihren Spiegel hervor, um nachzusehen, ob der ausgestandene Schreck Spuren auf ihrem hübschen Gesicht hinterlassen hatte.
Da sah sie es! Der Besuch hatte Spuren hinterlassen! Sie hatte eine neue Frisur bekommen! Eine ganze Strähne von ihrem Haar war fortgeschnitten worden. Sie hatte plötzlich eine nette, pikante Ponyfrisur. Verstört sah sie auf ihr Spiegelbild. Langsam aber verklärte sich ihr Gesicht. Irgend jemand, wer es auch war, war so närrisch gewesen, sich mitten in der Nacht in das Haus zu schleichen, nur um eine Locke von ihrer Stirn zu erha-schen. Eine Weile dachte sie darüber nach, wer wohl der unbekannte Bewunderer sein könnte; aber es war und blieb ein Rätsel für sie. Tante Ada beschloß großmütig, dem »Wer-es-auch-war« zu verzeihen. Und verraten würde sie ihn auch nicht.
Mochten die anderen es nur weiter für einen Traum halten.
Tante Ada seufzte und kroch wieder in ihr Bett. Sie beschloß, morgen zum Friseur zu gehen und die Ponyfrisur noch ein Spürchen kürzer machen zu lassen.
ZWÖLFTES KAPITEL
Ein neuer Tag begann, und im Garten des Bäckermeisters warteten Kalle und Eva-Lotte schon seit dem frühen Morgen auf Anders und seinen Bericht über das nächtliche Unternehmen.
Aber die Stunden gingen, und von Anders hörten sie nichts.
»Eigenartig«, sagte Kalle. »Er ist doch wohl nicht wieder gefangen worden?«
Sie wollten sich gerade auf die Suche nach ihm begeben, als er endlich kam. Er lief nicht, wie er es sonst tat, sondern ging langsam und war seltsam blaß.
»Wie siehst du elend aus«, sagte Eva-Lotte. »Bist du auch so ein ›Opfer der Hitze‹, wie immer in der Zeitung steht?«
»Ich bin ein Opfer von gekochtem Schellfisch«, sagte Anders.
»Gekochten Schellfisch, das habe ich meiner Mutter schon wer weiß wie oft gesagt, vertrage ich nicht. Und jetzt ist es endlich bewiesen.«
»Wie denn?« wollte Kalle wissen.
»Raus aus dem Bett – rein ins Bett. Die ganze Nacht erbrochen.«
»Und der Großmummrich?« fragte Kalle. »Der liegt wohl immer noch in der Kommode, was?«
»Jungchen, das habe ich natürlich vorher erledigt! Ich erledige alles, was zu erledigen ist, mögen die Stürme auch in mir toben. Der Großmummrich liegt in Sixtus’ Globus!«
»Fein!« sagte Kalle. »Erzähle! Ist Sixtus aufgewacht?«
»Beruhigt euch! Ihr werdet schon hören!« sagte Anders.
Sie saßen zu dritt auf Eva-Lottes Steg. Hier unten am Fluß war es kühl, und die Erlen gaben einen behaglichen Schatten.
Mit den Beinen baumelten sie in dem lauen Wasser. Anders sagte, das habe eine beruhigende Wirkung auf den Schellfisch in seinem Magen.
»Vielleicht, wenn ich so darüber nachdenke, war es nicht nur der Schellfisch. Vielleicht waren es auch noch die Nerven. Denn heute nacht bin ich im Haus der Schrecken gewesen.«
»Erzähle alles von Anfang an«, sagte Eva-Lotte.
Das tat Anders. Sehr dramatisch schilderte er seine Begeg-nung mit Beppo und wie er ihn zum Schweigen gebracht hatte.
Kalle und Eva-Lotte waren ein paar ideale Zuhörer. Sie freuten sich über alles und brüllten vor Lachen, und Anders genoß es, ihnen seine Abenteuer zu erzählen.
»Ihr versteht doch, hätte ich Beppo nicht die Schokolade gegeben – ich wäre verloren gewesen!«
»Gut, daß die Leute mir so viel Schokolade schicken«, sagte Eva-Lotte.
Dann schilderte Anders die beinahe noch schlimmere Begeg-nung mit dem Postdirektor.
»Hättest du ihm nicht auch etwas Schokolade geben können?« fragte Kalle.
»Nein, Beppo hatte alles bekommen«, sagte Anders.
»Und wie ging es weiter?« Eva-Lotte war ganz aufgeregt vor Neugier.
Anders erzählte, wie es weitergegangen war. Er erzählte alles, von Sixtus’ Tür, die nicht mehr quietschte, und von Sixtus’ Tante, die um so mehr quietschte, und wie ihm das Blut eingefroren war, als er es hörte, und wie er Hals über Kopf hatte fliehen müssen. Das einzige, wovon er nicht sprach, waren die tantli-chen Locken, die er in den Fluß versenkt hatte. Kalle und Eva-Lotte fanden alles spannender als eine Abenteuergeschichte, und sie wurden nicht müde, winzige Einzelheiten immer wieder hören zu wollen.
»Was für eine Nacht!«
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