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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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merkten wir, dass er merkwürdig schräg hing. »Himmel, Herrgott, Sakrament!«, rief der ältere Ritter, als er den jungen Soldaten sanft wieder zu Boden gleiten ließ. »Himmel, Herrgott, Sakrament. Sein Hals.« Dann stieß er mit einer raschen, verblüffenden Bewegung seine Axt von unten nach oben in den Hals des Pferdes, und das arme Tier sank sogleich zu Boden. Sein Leiden hatte schließlich ein Ende.
    In diesem Augenblick wurde mir erst so recht bewusst, wo ich mich befand: auf einem Schlachtfeld, einem Schauplatz des Grauens, inmitten von verwundeten und toten Männern und Rössern.
    Das Sonnenlicht schien mir mit einem Mal zu hell, meine menschliche Sicht zu klar.
    Da zischte plötzlich ein Pfeil zwischen uns hindurch, so nah und pfeifend, dass mir der schrille Ton durch Mark und Bein fuhr. Der Ritter reagierte, indem er seinen Schild vor unseren Körpern in die Höhe hob. Im selben Moment sprang von einem verendeten Pferd eine dunkle Gestalt auf uns herab. Zu Tode erschrocken fuhr ich zurück und sah zu, wie der Feind meinen Beschützer angriff. Der gemeine englische Soldat schwang mit beiden Armen eine blutige Streitaxt über dem Kopf, sodass seine Muskeln hervortraten.
    Ein minderwertiger Mann mit einer minderwertigen Waffe, könnte man denken, doch seine wilden Augen funkelten, als er aufbrüllte -und mein Franzose war erledigt. Zwar hielt der prunkvolle Schild die schlimmste Wucht des ersten Schlages ab, und mein Ritter versuchte, mit seiner kunstvoll geschliffenen Streitaxt zu kontern, doch der Aufprall zwang ihn in die Knie. Er versuchte, noch einmal auszuholen, aber er hatte keinen Platz, um einen richtigen Schlag landen zu können, und der nächste Hieb des Angreifers streckte ihn zu Boden. Die Rüstung war zu schwer, und so konnte er ohne Hilfe nicht aufstehen. Jedes Wunder hat seinen vorherbestimmten Ort und seine vorherbestimmte Zeit, und selbst ich konnte sie nicht beherrschen. So verzweifelt ich auch einzugreifen wünschte, die Zeit des Franzosen war gekommen.
    Nachdem der todbringende Schlag erfolgt war, kniete ich rasch neben ihm nieder, schloss die Augen und begann zu beten - laut, damit er es hörte, wenn er seinen letzten Atemzug tat.
    Als ich die Augen wieder öffnete, schaute ich zu dem englischen Soldaten auf, der gerade die Waffe erhoben hatte, um noch einmal zuzuschlagen.
    Ich presste die Handflächen fest aufeinander und behielt einen beherrschten Ausdruck bei. Mit Hilfe meines Zweiten Gesichts konnte ich die Macht in und hinter dem unwissenden Soldaten ausmachen. »Schlagt nur zu, wenn Ihr wollt«, forderte ich ihn ruhig auf. »Schlagt nur zu, ich habe keine Angst. Doch zunächst sollt Ihr wissen, dass die Heilige Mutter Euch liebt.«
    Ein seltsamer, geradezu verwirrter Ausdruck trat auf das schmutzverkrustete Gesicht des Engländers. Langsam ließ er die Axt sinken. Dann, als würde er plötzlich von einer unsichtbaren Peitsche angetrieben, rannte er davon. Langsam erhob ich mich. Feuchte Erde und Blut klebten in Kniehöhe schwer an meinem Winterhabit, während ich mir einen Weg über und um Leichen herum bahnte -Tausende und Abertausende Toter lagen in allen Richtungen übereinander, so weit mein Auge reichte - zu viele, um in einem einzigen Herzen Platz zu finden. Mir blieb nichts anderes übrig, als einen Schutzwall um mein Herz zu errichten, denn zu meiner Rechten stand plötzlich ein wild schreiender Mann, dem der Arm abgetrennt worden war. Ich war gezwungen, mich an ihm festzuhalten, sonst wäre ich über einen anderen gestolpert, der stöhnend zu meinen Füßen lag. Unwillkürlich kam mir der Gedanke, dass nur Ungeprüfte je das Wort »Ruhm« im Zusammenhang mit Krieg in den Mund nehmen können. Rings um mich waren englische Bogenschützen aus ihren Verstecken hinter Hecken und hastig errichteten Palisaden hervorgekommen, um die Pfeile aus den Toten zu ziehen.
    Das englische Fußvolk - dieselben Soldaten, die in Carcassonne einmarschiert waren und den größten Teil der Stadt in Schutt und Asche gelegt hatten - verfolgte die flüchtenden Franzosen oder kämpfte gegen die kleinen Nester Zurückgebliebener, die den Ansturm überlebt hatten. Sie schenkten mir keinerlei Beachtung, als wäre ich völlig unbedeutend, ein harmloser Hund, der zufällig mitten in den Krieg hineingeraten war.
    Hinter mir ertönte wieder Trompetenschall. Die herannahenden Soldaten waren zu Fuß, nicht beritten, denn ich hörte sie marschieren. In der Ferne grasten Hunderte von Kriegsrössern auf den

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