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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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die Männer, wenn sie auch entrüstet hinter mir her riefen:
    Wahnsinnige Hure! Komm heute Abend wieder, wenn der Krieg vorbei ist!
    Ich rannte, bis ich nicht mehr weiterkam, nicht etwa aus Erschöpfung oder weil mich der Mut verlassen hatte, sondern weil die Woge der Soldaten, mit der ich mich hatte nach vorn spülen lassen, auf einen Strom von Männern stieß, die aus dem Nebel gestürzt kamen.
    Das Schlachtfeld, dachte ich zunächst. Das sind die Engländer.
    Aber nein, es waren Franzosen, vielleicht zwei-bis dreihundert. Sie liefen auf uns zu, einige bluteten, viele waren blutbespritzt, wieder andere hatten Pfeile in der Rüstung stecken.
    »»Zurück!«, schrien sie, die hochgeklappten Visiere gaben den Blick auf ihre Gesichter frei, in die das blanke Entsetzen geschrieben stand.
    » Wir sind tot - sie bringen uns alle um! Wir sind der Rest!«
    Die Schreie kamen zunächst nur von vorn, später auch von hinten, schwach zunächst, dann immer kräftiger: »»Zurück! Zurück!« Die Soldaten neben mir blieben stehen und sahen ihre Kameraden vom ersten Bataillon vorbeilaufen. Einen Augenblick lang zögerten sie verwirrt, denn sie waren noch erfüllt von der Vorfreude auf den Kampf. Doch die Furcht auf den Gesichtern ihrer Kameraden überzeugte sie. Kurz bevor ein offizieller Befehl erteilt wurde, kehrten sie um, eilten zurück zur Stadt und trugen den Aufschrei weiter. Doch ich konnte nicht zurück. Mein Kampf hatte schließlich noch nicht begonnen.
    Es war nahezu unmöglich, gegen die Woge fliehender Menschen anzukommen. Doch vor mir stand ein Soldat, der wie ich sein Gesicht noch immer dem Kampf zugewandt hatte. Er war groß und kräftig, hatte die Beine fest wie Baumstämme in den Boden gestemmt und hielt die Arme schützend vor den Körper. Ich schob mich hinter ihn und konnte mich so vor der Flut abschirmen. Als er sich umdrehte, um nachzusehen, wer sich hinter ihm versteckt hielt, blickte ich direkt in sein breites, fleischiges Gesicht. Er lächelte und sagte: »Sieh an, eine Frau ist tapferer als alle anderen. Betet für mich, wenn ich tot bin, Schwester.« Wir blieben eisern stehen, bis der Ansturm der Fliehenden nachgelassen hatte, und bahnten uns dann langsam einen Weg nach vorn.
    Mein Beschützer wurde von seiner schweren Rüstung und der Streitaxt behindert, hielt jedoch seinen Schild die ganze Zeit über hoch. Er fing drei Pfeile ab, während ich mich jedes Mal hastig hinter ihn duckte. Stets zuckte ich beim Aufprall eines Pfeils und dem nachfolgenden Widerhall auf Holz und Metall zusammen, doch ich spürte nicht einen Anflug von Furcht. Die Sonne hatte die Nebelbänke allmählich aufgelöst. Ich spähte um die breite Flanke meines Ritters und sah direkt vor uns am Horizont, was von den Soldaten übrig geblieben war: nicht mehr als ein paar vereinzelte Söldnertruppen - alle aus dem Adelsstand. Das zurückweichende Bataillon hatte die Wahrheit gesagt. Überall zogen schmutzverkrustete Engländer ihre Waffen aus französischen Leichen. Bei diesem trostlosen Anblick hob mein Ritter seine Streitaxt und begann, nach vorn zu stürmen ... Noch ehe er reagieren konnte, stolperte er über ein Hindernis zu unseren Füßen. Vor uns lag ein gut aussehender junger Adliger in voller Rüstung auf dem Rücken, die Augen weit aufgerissen, den Mund vor Überraschung leicht geöffnet.
    Neben ihm mühte sich das schrill wiehernde Pferd des Adligen, auf die Vorderbeine zu kommen, was ihm jedoch nicht gelingen wollte. Ein Pfeil war tief in seinen ungeschützten Rumpf eingedrungen, sodass es die Hinterbeine nicht mehr gebrauchen konnte. Seine feine Pferdedecke, bestickt mit goldenen und blauen Fäden, war blutdurchtränkt. Verzweifelt bleckte das Tier die Zähne und reckte den Kopf zum Himmel empor.
    »Schon gut, schon gut«, sagte der Ritter leise zu dem gefallenen jungen Soldaten, nachdem er erfolglos versucht hatte sich abzufangen und auf den am Boden Liegenden gestürzt war. Mit einem Arm drückte er nun gegen das Pferd, mit dem anderen stützte er sich auf mich. Unter heftigem Stöhnen und mit knarrender Rüstung kam er wieder auf die Beine. »Wir wollen Euch aufrichten, Seigneur«, sagte er zu dem Adligen und langte mit erstaunlicher Kraft zu seinen Füßen, um den Gefallenen aufzurichten. Doch der Gesichtsausdruck des jungen Mannes veränderte sich nicht. Seine Augen starrten weiterhin ins Leere, und sein Körper blieb schlaff, trotz der angestrengten Versuche des Ritters. Erst als sein Kopf in den Nacken rollte,

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