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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon
Autoren: Unbekannter Autor
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blutete mir das Herz, dass sie mich nicht sogleich an die Seite meines Geliebten führte, doch ich gab nach und vertraute ihr. Innozenz diktierte noch, da schlüpfte ich mit Hilfe der Göttin, von den Gendarmen und meinem Feind unbemerkt, aus dem päpstlichen Gemach.
    Für andere Menschen unsichtbar und von der Göttin geleitet lief ich rasch in den Teil des Palasts, in dem die Mitglieder der Kurie mit ihrem Gefolge und ihrer Dienerschaft in herrlichen Zimmerfluchten lebten. Ich wanderte von Zimmer zu Zimmer, dann durch einen dunklen Korridor, bis ich zu wunderschönen Privatgemächern kam mit einem riesigen Vorzimmer, das von einem Feuer im bauchigen Kamin erwärmt wurde. Hier gab es vergoldete Stühle, gepolstert mit glänzendem Goldbrokat, die Fliesen auf dem Boden waren bedeckt mit Hermelinteppichen, auf feinsten Wandteppichen waren biblische Szenen dargestellt, einschließlich einer besonders eindrucksvollen, die das Paradies vor dem Sündenfall zeigte. Zwei goldene Kandelaber standen auf einem dunklen Tisch, in den ein sechseckiger Stern aus hellem Eichenholz eingelassen war. Alle zehn Kerzen waren angezündet worden - offensichtlich erst vor kurzem, da sie noch lang waren - in Erwartung der Rückkehr ihres Besitzers.
    Ich nahm einen der Kandelaber, trat an den Wandbehang mit der Paradiesszene und hob eine Ecke hoch. Dahinter entdeckte ich ein weiteres Wandgemälde, auf dem Adam und Eva zu sehen waren, traurig, weil sie aus dem Paradies vertrieben wurden, Feigenblätter über ihrer Scham. Evas wunderschönes helles Haar fiel ihr in Wellen über die weißen Brüste. Ich drückte kräftig auf den abgebildeten Erzengel mit dem Schwert in der Hand, der jene, die aus dem Paradies vertrieben wurden, an der Rückkehr hindern sollte. Stein schabte über Stein, als die Wand nach innen glitt und sich ein dunkles Loch öffnete.
    Ich schlüpfte hinein.
    Meine Gabe hatte mich schon einmal an diesen Ort geführt, und ich wusste, was mich erwartete, doch beim Eintreten entfuhr mir ein Schreckenslaut. Die Winter in Carcassonne und in meinem heimatlichen Toulouse sind selten streng, aber es gibt Zeiten, da der Mistral, der Winterwind, so bitterkalt bläst, dass er einem den Atem nimmt. Dieses Gefühl hatte ich, als ich diese kleine, fensterlose, hinter dicken Palastmauern verborgene Kammer betrat, schaudernd, sodass ich kaum atmen konnte. Doch die Kälte war keineswegs körperlich. Es war eine brennende Kälte, das Flüstern von tausend Seelen, die in Furcht und Qualen umgekommen waren, darunter die Stimme meiner Noni, die Domenico rief ...
    Ich hielt den Kandelaber hoch, und das Licht breitete sich in dem runden Raum aus. In jeder Himmelsrichtung - nach Osten, Süden, Westen und Norden - stand eine Kerze, groß wie ein Mann und halb so dick, jede mit einem anderen Bild verziert, dem eines Adlers, eines Löwen, eines Mannes, eines Stiers. Im Osten erhob sich ein Altar aus glänzendem Onyx.
    Auf diesem Altar bot sich mir ein grauenvoller Anblick: der verkohlte Kadaver eines Vogels, umgeben von Asche und den versengten Holzsplittern eines kleinen Käfigs. Auf dem kalten Marmorboden lagen drei weiße Federn, zwei von ihnen mit winzigen, hellroten Blutstropfen besprenkelt. Ich schloss kurz die Augen vor dem Bild der Taube, die innerhalb der flammenden Holzstäbe ihres Käfigs verzweifelt mit den Flügeln schlägt.
    Du, verräterisches Feuer, entfacht bei der Geburt des Kindes ... Um die schwarz verbrannten Flügel der Taube und um ihren Hals war eine Kette geschlungen, an der ein goldener Talisman hing. Die Inschrift war unleserlich, denn das Metall war vollständig geschmolzen und hatte sich in das Brustbein des Vogels, in sein stilles, kleines Herz eingebrannt.
    Ich erkannte sofort, wen die Taube darstellte. Dem Feind war sehr wohl bewusst, dass ich Luc mit Hilfe der Gabe gesehen hatte. Er wusste, ich würde kommen, und hatte auf mich gewartet, mir eine Falle gestellt. Für einen Moment geriet ich ins Schwanken und fragte die Göttin: Warum hast Du mich hierher geführt? Willst du mich verlassen? Mich dem Feuer übergeben?
    Doch rasch bat ich um Vergebung für solche Gedanken. Zu dringlich war meine Suche nach einem anderen Talisman, einem ganz bestimmten Anhänger.
    Ich begann im Osten und zündete deosil, im Uhrzeigersinn, die Kerzen an, brachte sie nacheinander mit einer der Kerzenflammen des Kandelabers in Berührung. Die Düsternis lichtete sich ein wenig, und ich sah, dass ich in einem magischen Kreis stand, der in das
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