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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon
Autoren: Unbekannter Autor
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seine Lippen waren farblos, doch er besaß noch immer die meisten seiner Zähne. Zwischen den dunklen Augenbrauen ragte in scharfer, gerader Linie die Nase hervor, deren Spitze wie ein Pfeil nach unten zeigte.
    »Euer Heiligkeit«, grüßte mein Feind, kniete so schnell vor ihm nieder und küsste den päpstlichen Ring, dass sich seine Knie kaum zu beugen schienen und seine Lippen nur die Luft berührten.
    »Domenico«, sagte der Alte ungehalten. »Ihr seht doch, dass ich mitten in ...« Statt den Satz zu beenden, hob er die blau geäderte Hand von der Armlehne seines Stuhls und drehte sie mit der Handfläche nach oben, drei Finger leicht gekrümmt und mit dem Zeigefinger auf einen jungen Schreiber deutend, der ihm aus einer Pergamentrolle vorlas.
    »Verzeiht, Heiliger Vater, doch ich habe eine gefährliche Gefangene, mit der rasch zu verfahren ist ...«
    »Oho!«, konterte Innozenz. »Ihr habt die Gefahr also zu mir gebracht, in meine Privatgemächer? Wie rücksichtsvoll.« Mit seinen vom Alter getrübten Augen blinzelte er zu mir herüber, und ein Mundwinkel schien zu zucken bei dem Gedanken, dass eine so kleine Frau eine unmittelbare Bedrohung darstellen sollte. »Wer ist das?«
    »Die Äbtissin des Franziskanerklosters zu Carcassonne, Mutter Marie Francoise«, erklärte mein Feind.
    »Aha.« Die Aufmerksamkeit des Papstes war geweckt. Sein Verstand hatte in all den Jahren nichts an Schärfe eingebüßt. Als einfacher Mann namens Etienne Aubert war er Professor der Rechtswissenschaften in Toulouse gewesen. »Ist das nicht die Äbtissin aus Carcassonne, die den Leprakranken geheilt hat? Viele Menschen halten sie für eine Heilige, Domenico. Die Meinung der Diözese von Toulouse ist, dass es sich hierbei um ein Gotteswunder handelt. Habt Ihr Grund, das anzuzweifeln?«
    »In der Tat«, erwiderte der Feind. »Sie hat erneut jemanden geheilt - aber diesmal einen Ketzer, der hingerichtet werden sollte, ein Angehöriger eines Kults, der der ursprünglichen gnostischen Ketzerei entstammt. Sie hätte ihn vor dem gerechten Tod bewahrt, wenn wir ihr nicht Einhalt geboten hätten.«
    »Aber selbst Christus hat Sünder geheilt ...«, begann Innozenz milde, doch dann klappte sein Mund ruckartig zu, und er wandte sich dem Kardinal zu, als wäre er von einem ungeschickten Marionettenspieler gezogen worden.
    Der triumphierende Blick des Kardinals lag auf mir, und mit hämisch verzogenen Lippen befahl er dem Heiligen Vater: »Ihr werdet diesem Schreiber jetzt eine Notiz diktieren, in der Ihr ausdrücklich anordnet, auf die normale Anzahl von Zeugen zu verzichten, die für eine Anklage und Verhaftung notwendig sind, und auf die üblichen Befragungen, die für das Todesurteil einer Ketzerin erforderlich sind. Schreibt Mutter Marie Francoise, das ist der Name der Verbrecherin.«
    Der arme Innozenz tat, wie ihm geheißen, und sein Schreiber notierte, während die Wachen warteten, als sei nichts Ungewöhnliches vorgefallen, als sei es nicht offensichtlich, dass der Kardinal sich der Magie bediente.
    Mein Feind grinste mich unverschämt an, als er mein Erstaunen sah, und endlich begriff ich, warum er mich zum Papst gebracht hatte: aus grausamer Arroganz. Er war stolz darauf, den Papst und seine Speichellecker so zu beherrschen, und er sonnte sich in der Furcht, die Zeugen dieser Macht empfinden mussten - also auch ich. Er wollte nichts lieber als mich leiden sehen, und ich sollte wissen, dass er es war, der mir dieses Leid zufügte.
    Vielleicht meinte er, dass ich mich aus Angst vor seiner Stärke fügte und nicht, weil es der Wille der Göttin war. Gewiss empfand er eine gehässige Freude bei dem Gedanken, er hätte gewonnen, und ich sei ohne meinen Geliebten gefesselt. Doch ich war die Göttin ohne ihren Gefährten, die Herrin ohne ihren Herrn - wie er, mein Feind aus freien Stücken ein Herr ohne Herrin geworden war ohne Ana Magdalena. Denn er war niemand anders als der in Italien als Sohn einer italienischen Mutter und eines französischen Vaters geborene Domenico Chretien.
    Ah, aber er begriff nicht, welches Opfer Noni für mich gebracht hatte. Er verstand nur etwas von Furcht, doch nicht von Liebe, und daher wusste er nichts von meiner höchsten Weihe.
    Arrogant, triumphierend stand er da und wandte schließlich den Kopf, um seine gesamte Aufmerksamkeit dem Papst zu widmen. Während er ihn bei der Ausführung seines Willens beobachtete, war ich plötzlich frei in der Göttin, konnte mich bewegen und ihren Willen erfüllen.
    Wieder
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