Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon
Liebe, Hoffnung anschaute. »Luc de la Rose ist nicht tot.«
»Nicht tot?«, Michel richtete sich wie vom Donner gerührt auf. »Aber ich habe doch mit eigenen Augen gesehen, wie er starb. Sie haben die Flammen stark angefacht, damit die Hinrichtung vorbei war, ehe das Gewitter ...«
»Der Gefangene, den ich geheilt habe, war nicht Luc de la Rose.« Sybille hielt inne und richtete ihren durchdringenden Blick auf Michel, ehe sie vorsichtig, langsam sagte: »Luc de la Rose lebt noch. Und er sitzt hier vor mir.«
Michel konnte sich zunächst offensichtlich keinen Reim machen auf das, was sie gesagt hatte. Nach kurzem Schweigen fügte sie deshalb hinzu: »»Darum habe ich mich dem Feind ergeben, weil ich vorausgesehen habe, dass seine Arroganz ihn dazu verleiten würde, dich als Schreiber zu schicken, denn das würde mich am meisten quälen. Aber es hat mir auch die Möglichkeit eröffnet, dir deine Geschichte zu erzählen und dich zu befreien. Denn wenn du, Herr unseres Geschlechts, dich als Feind gegen dein Volk wendest, sind wir verloren.«
Vor Michels geistigem Auge tauchte das Bild von Sybille auf dem Richtplatz auf, wie sie schrie: Luc de la Rose! Ich schwöre, ich werde einen Weg finden, dich zu erlösen! Er hatte sich eingeredet, sie habe es dem Gefangenen zugerufen, doch hatte sie sich nicht dem Podium zugewandt und ihn selbst angesehen?
In diesem Augenblick - warum war es ihm nicht schon vorher aufgefallen? - antwortete sein Herz, und er erkannte die Wahrheit. Und eine innige Liebe ergriff ihn, die er nicht leugnen konnte. Sie durchströmte ihn frei und ungehemmt, und er glaubte.
Die Träume von Luc waren ihm so wirklich vorgekommen, weil es seine eigenen Erinnerungen waren, die Sybille ihm wiedergegeben hatte. Unvergossene Tränen brannten in seinen Augen. Sie hatte sich dem Feind ergeben, hatte körperliche Qualen ertragen und riskierte jetzt den Tod, nur um ihn zu retten.
Auf einmal überkam ihn eine geistige Qual mit beinahe körperlichem Schmerz, ein Gefühl, als krallten sich die Klauen eines Falken in seinen Schädel, und er griff sich an den Kopf und flüsterte: »Unmöglich. Unmöglich. Chretien und Charles haben mich als Findelkind aufgenommen und erzogen. Ich habe ein ganz anderes Leben gelebt als Luc ...«
»Falsche Erinnerungen, die dir mit Hilfe von Magie eingegeben wurden, als Chretien erst einmal deinen Geist beherrschte.« Angerührt von seinem Leid beugte Sybille sich mühsam vor und legte die geschwollene Hand auf seine, als wollte sie ihm den Schmerz nehmen. »Du erinnerst dich daran, dass dir der Kardinal liebevoll den Kopf gehalten hat, als es dir nach der Hinrichtung schlecht ging, nicht wahr?«
Michel nickte stumm, zu überwältigt, um zu sprechen. »Sag mir, mein Herz, wie kann das sein? Zu jenem Zeitpunkt ließ Chretien den Papstpalast nach mir durchsuchen. Gleich danach brach er auf, um mich zu Pferd zu verfolgen. Wann soll Chretien die Zeit für diese freundliche Geste gefunden haben? Vor der Durchsuchung des Palasts? Oder als er mit mir vor dem Papst stand? Bevor er davonritt, um mich nach Carcassonne zu verfolgen?«
Michel aber schoss Vater Charles' Warnung durch den Kopf, ihn von der Befragung auszuschließen: Sie hat dich verhext.
Dagegen Sybilles Stimme: Du bist verhext, Bruder, doch nicht von mir.
Michel stöhnte leise und ließ zu, dass sie ihm zärtlich die Hände vom Gesicht zog, seine quälenden Gedanken vertrieb. Ihrer Logik hatte er nichts entgegenzusetzen. Er wollte tatsächlich nichts lieber, als aufzustehen und sie aus ihrer Zelle zu führen, den Wärter zu bekämpfen, falls notwendig, um ihr zur Flucht zu verhelfen...
Doch die Barriere in seinem Kopf blieb -vielleicht war es eine religiöse, dachte er, als Folge seiner Ausbildung zum Mönch - und zwang ihn, einfach dazusitzen. Er hatte nicht die Kraft zu tun, was sein Gefühl ihm gebot.
»Er hat dir deine Erinnerungen genommen ... und deine Macht«, fuhr Sybille leise fort und umfasste seine Hände. Bei der Berührung spürte Michel erneut, wie Verlangen ihn durchströmte. »Deine Mutter hat dich nicht getötet, sondern der Feind hat dich um deinen Verstand gebracht. Trotzdem hast du mich erkannt, als du mich in Avignon gesehen hast, und hast gewusst, dass die Heilung eine heilige Handlung war. Deshalb schreist du nicht entrüstet auf, wenn ich deinen >Vater< als den Feind bezichtige.
Die Wahrheit ist, dass er nicht dein Vater ist. Die Wahrheit ist, dass du über ein Jahr in Avignon in seiner Gewalt
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