Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon
Regen hatte auch die Gefahr fortgespült, die das Kind bedroht hatte. Das Böse war verschwunden, geflohen an einen fernen Ort - sonst hätte sie nie erlaubt, dass Catherine die Kleine auch nur in den Armen hielt. Aber es war nicht vernichtet, das wusste Ana Magdalena, und es würde bald zurückkehren.
Sie hatte ihre Pflicht ihrem Sohn und ihrer Schwiegertochter gegenüber erfüllt. Jetzt war es endlich an der Zeit, die pochenden Verbrennungen an ihren Schienbeinen zu versorgen. Dank la bona Dea waren sie nicht so schlimm, wie sie hätten sein können. Ana Magdalena hob ihr versengtes Unterkleid und sah, dass sich an den Beinen nicht einmal Blasen gebildet hatten, nur große, leuchtend rote Flecken, wo die feinen, dunklen Haare verbrannt waren. Da die Haut unversehrt war, musste sie keine Infektion befürchten, und obwohl es zu dunkel war, um Lavendel für eine lindernde Kompresse zu sammeln, hatte die Göttin für die beste Medizin überhaupt gesorgt, die Hitze und Schmerz vertrieb.
Ana Magdalena holte das, was an Eintopf und Huhn noch übrig geblieben war, die paar Knochen, an denen noch ein wenig Fleisch hing. Dann steckte sie die Röcke an ihren Hüften fest, setzte sich auf die Türschwelle und streckte die nackten Beine hinaus in den kalten Regen. Sie genoss ihr Abendessen und blieb so lange sitzen, bis sich ihre Beine mit einer Gänsehaut überzogen und ihre Zähne klapperten; nach der Hitze des Tages war die Kühle eine wahre Wonne.
Eine Zeit lang blieb sie noch sitzen, betete und überlegte, was sie als Nächstes zu tun hatte. Catherine hatte sich auf irgendeine Weise dem Bösen geöffnet, das dem kleinen Kind schaden wollte. Was könnte sie davon abhalten, sich Ihm erneut zu öffnen?
Jetzt, da Pietro schlief, könnte Ana Magdalena mit dem Kind fliehen und unbemerkt in einen anderen Ort, ein anderes Dorf oder eine andere Stadt gehen und das Mädchen als ihre Tochter großziehen. Es schien der sicherste Weg, doch bei dem Gedanken wurde ihr das Herz schwer. Wenn sie ginge, würde dann nicht sie selbst unbewusst das Werk des Bösen tun?
Nach wenigen Stunden war der Sturm vorüber. Draußen wurde die Stille nur von dem leisen, hohen Gezirpe der Grillen und den traurigen, gedämpften Schreien einer Eule unterbrochen. Catherine lag sanft schnarchend auf dem Rücken neben ihrem Mann; eingekuschelt zwischen Mann und Frau schlummerte das Kind in der Armbeuge der Mutter. Pietro schlief wie immer still wie der Tod. Er lag auf der Seite und hatte die Wange fest an die Matratze gedrückt. Ana Magdalena wusste, dass sie ihm ins Ohr schreien konnte, ohne ihn aufzuwecken. Das gelänge erst eine Stunde vor Sonnenaufgang, doch Catherine hatte einen leichten, ängstlichen Schlaf. Gewiss, sie hatte einen Schlaftrunk zu sich genommen und war erschöpft durch die langen Wehen, doch die starke Bindung zwischen Mutter und Kind war unberechenbar.
Trotzdem, dachte Ana Magdalena, kann ich nur tun, worum die Göttin mich bittet. Sie stand mit langsamen, bedächtigen Bewegungen vom Bett auf und drehte sich zu Catherine und dem Neugeborenen um. Die gewickelte Sibilla lag ruhig an einem vom Mondlicht erhellten Fleck. Seit ihrer Geburt hatte sie nicht mehr geschrien. Wie ihr Vater, dachte Ana Magdalena liebevoll. Pietro war ein ruhiges, zufriedenes Kind gewesen, und kurz nach seiner Geburt hatte es durchaus Momente gegeben, in denen Ana Magdalena beinahe vergessen hatte, dass ihr Sohn schon geboren war. Die Röte in Sibillas Gesicht war einem rosigen Schimmer gewichen. Catherine, die neben ihr im Schatten lag, erschien dagegen blass. Eigentlich war es ein Wunder, dass eine derart zerbrechliche Frau ein so gesundes Kind zur Welt gebracht hatte. Ana Magdalena beugte sich vor, streckte die Hände aus und ließ sie unter ihre Enkelin gleiten; dabei achtete sie sorgfältig darauf, dass sie den Arm der schlafenden Mutter nicht berührte. Das Kind bewegte sich in seinen engen Windeln. Es hatte die Augen fest geschlossen, gab aber keinen Laut von sich. Lächelnd hob Ana Magdalena es langsam und behutsam in die Höhe.
Plötzlich bewegte sich Catherine und stöhnte im Schlaf vor Schmerz. Die ältere Frau erstarrte mitten in der Bewegung; noch immer über die Jüngere gebeugt, hielt sie die Kleine knapp einen Fuß über der Matratze.
Nach ein paar aufregenden Sekunden kam Catherine wieder zur Ruhe und schnarchte weiter. Ana Magdalena seufzte unhörbar auf, nahm das Neugeborene in die Arme und stahl sich barfuss hinaus in die
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