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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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Haupt und stellte im Geist die nächste Frage. »Soll ich das Kind den Eltern fortnehmen -oder sollen wir alle zusammenbleiben?«
    Keine Antwort. Ana Magdalena wiederholte die Frage - doch vergebens, was bedeutete, dass es keine genaue Antwort gab. Es spielte keine Rolle, welchen Weg sie wählte, er würde immer zum selben Ziel führen. Also dachte sie eine Zeit lang mit geschlossenen Augen nach, bis ihr eine bedeutungsvollere Frage einfiel.
    »Zeige mir den stärksten Zauber, damit ich sie beschützen kann.«
    Noch ehe sie mit stummen Lippen die Frage formulierte, erwiderte die Mutter: Ich werde dir zeigen, welche Wahl du hast.
    Unmittelbar erfuhr Ana Magdalena eine starke Vision, stärker als je zuvor in ihrem Leben, selbst wenn sie den Vorgang mit Kräutern oder Lustgefühlen unterstützt hatte.
    Plötzlich befand sie sich nicht mehr im Wald, sondern in einer schönen Kate, die eine Feuerstelle und zwei Räume hatte, Schemel, auf denen man sitzen konnte, und einen großen Herd, in dem ein Holzfeuer prasselte. Neben ihr saß eine bezaubernde junge Frau: Sie erkannte Sibilla in ihr, und an Sibillas Brust lag ein kleines Mädchen. Zu Füßen Ana Magdalenas spielte ein kleiner Junge zufrieden mit einer Holzpuppe. Das Herz der alten Frau ging über vor Glück: Das waren ihre Urenkel ...
    Gleich darauf erfolgte eine Explosion, kristallen scharf und laut wie klirrendes Glas - ein Geräusch, das Ana Magdalena erst einmal im Leben gehört hatte, als Braut vor dem Altar, als jemand einen großen Stein ins Kirchenfenster geworfen hatte und in der Sonne aufblitzende, farbige Scherben herabgeregnet waren. Sie hatte es damals für ein böses Omen gehalten und sich neben ihrem Bräutigam und dem Priester gekrümmt. Damals nannte man sie im Dorf bereits striga, und sie hatte in die Stadt gehen müssen, um einen Geistlichen zu finden, der sie nicht kannte und bereit war, sie zu trauen. Kurze Zeit später war sie mit ihrem Mann in ein anderes Dorf gezogen.
    Als böses Omen empfand sie es auch jetzt, ehe sie die Augen aufschlug und sich im Wald wieder fand, dessen große Olivenbäume in Flammen standen. Die Flammen, die daraus hervorzüngelten, strahlten übernatürlich kräftig in den herbstlichen Farbtönen Karmesinrot, Orange und Ocker; sie schlängelten sich in Wellen, als wären sie lebendig, von den Ästen her auf Ana Magdalena zu ... und auf das kostbare Kind. Auf den Knien kroch sie zu der kleinen Sibilla hin, doch das Feuer wogte herbei, an den Baumstämmen herab und auf die feuchten Blätter und Blumen zu. Es eilte mit derselben Schnelligkeit darüber hin, mit der Wind über Kornfelder hinwegstreift, und errichtete eine Wand zwischen der Frau und dem kleinen Kind.
    Ohne nachzudenken langte Ana Magdalena durch die Flammen. Sie war sich sicher, dass es sich um magische Flammen handelte, denn obwohl sie hell leuchteten, verbrannten sie weder Holz noch Laub. Dann zog sie mit einem schrillen Schmerzensschrei die Hand zurück und blickte verwundert auf die rote, von Blasen übersäte Handfläche.
    »Sibilla!«, rief sie und dachte nicht mehr daran, dass sie jemanden im Ort wecken könnte.
    Sie erhob sich. Sogleich schlugen die Flammen höher, wurden undurchsichtig und nahmen ihr die Sicht auf das Kind, das keinen Laut von sich gab. Ana Magdalena konnte nichts sehen außer den großen Bäumen, die brannten und dennoch unversehrt blieben, wie der Dornenbusch bei Moses. Schreckliche Furcht um das Kind und um sich selbst packte sie. Die Hitze wurde so stark, dass sie spürte, wie sich auf ihrem entblößten Gesicht, auf Armen und Beinen Blasen bildeten. Doch auch als Schmerz und Angst sie übermannten, schaute sie noch jenseits des sie umzingelnden Feuers in die Dunkelheit - und in die glitzernden grünen Augen, die sie von dort beobachteten.
    Es waren Wolfsaugen, jedoch zeugten sie von einer geistigen Macht, die weit größer als die eines Tieres war, und sie gehörten einer noch dunkleren Gestalt an, einer menschlichen, einer großen und hämisch grinsenden. Bei ihrem Anblick vernahm Ana Magdalena im Geist klirrendes Glas.
    Das Böse war seit dem Tag ihrer Geburt gegenwärtig gewesen. Sie war im Bewusstsein Seiner Gegenwart aufgewachsen und wusste, dass ihr Leben darin bestand, gegen das Böse zu kämpfen.
    „Göttin, bitte hilf mir!«, schrie sie. Sogleich gingen die Flammen so weit zurück, dass die friedlichen Züge der Holzstatue sichtbar wurden. Ana Magdalena war erleichtert. Das war kein Angriff des Bösen, ermahnte sie

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