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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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Dunkelheit.
    Diana, schütze uns heute Nacht, betete sie und spürte das kalte, feuchte Gras unter ihren schwieligen Füßen. Während sie ging, wurde der Weg plötzlich in ein helles Licht getaucht, sodass sie jede Wildblume, jeden Grashalm, jedes Kraut, ja sogar den braunen Hasen erkennen konnte, der auf seinen Hinterbeinen stand und schnüffelte. Sie schaute zum Himmel empor und sah den zunehmenden Mond hinter den rasch dahinziehenden Wolken auftauchen, umgeben von einem leichten Nebel, der in rosa und blauen Farbtönen schimmerte. Im Nu wurde sie von Liebe und einem so übermächtigen Gefühl der Bestimmung ergriffen, dass ihr der Augenblick zeitlos erschien: Hierfür war sie geboren worden, nichts anderes zählte mehr, als auf ewig durch das Gras und die Wildblumen zu laufen und ihre Enkelin in den Armen zu halten.
    Sie drückte das schlafende Kind an ihre Lippen und küsste es auf die unglaublich zarte Stirn. Das Mädchen zog die Stirn im Schlaf kraus wie ein Äffchen, und zwischen seinen flaumigen Augenbrauen tauchte eine Falte auf, ehe sich die Gesichtszüge wieder glätteten. Ana Magdalena lachte leise ...
    Und verstummte sofort, als Wölfe in der Nähe heulten, in den Tiefen des Olivenhains, wohin die Göttin jetzt Ana Magdalenas Schritte lenkte. Einen Augenblick lang blieb sie stehen und sah in der Dunkelheit die grünen Augen eines Tieres aufblitzen, wie jene, von denen Catherine in jenen kurzen Momenten besessen war: die Augen des Feindes.
    Furcht kam in ihr auf, doch sie verdrängte sie ebenso schnell wieder. »Ob ihr von dieser Welt seid oder nicht«, rief sie den Kreaturen zu, »im Namen der Göttin müsst ihr jetzt weichen und den gebotenen Abstand halten.«
    Behutsam und doch geschwind setzte sie sich wieder in Bewegung, und das Heulen und die Augen verschwanden unverzüglich.
    Frau und Kind trafen keine Seele, ehe sie den Rand des heiligen Olivenhains erreichten, der von den römischen Invasoren angelegt worden war und in dem uralte Bäume, manche so hoch wie sechs aufeinander stehende Männer, ihre silbrigen Äste in den Himmel streckten. Ana Magdalena trat unter den ersten schützenden Zweig. Sogleich verdunkelten die dicken, belaubten Äste das Mondlicht, das in einem winzigen Strahl hier und einem Splitter dort durch die Lücken drang und kleine, spärlich bewachsene Grasflecken und die feucht riechende Erde erleuchtete. Für sie war das nichts Neues. Im Laufe der Jahre war sie des Nachts oft hierher gekommen - zunächst von einer Intuition geführt und von den Mondphasen angezogen, später vom Gefühl der Zusammengehörigkeit - und kannte den Weg gut.
    Die Bäume am Rand des Hains waren erst vor kurzem abgeerntet worden. Doch als sie sich der abgeschiedenen Mitte näherte, hingen die Bäume noch voller Früchte, die man dort zu Ehren der Königin des Himmels hatte hängen lassen. Ana Magdalena spürte die dicken, reifen Oliven unter den Füßen und atmete den schweren Duft ein, den sie ausströmten, wenn sie zertreten wurden. Morgen trügen ihre Füße verräterische blauviolette Spuren, die sie besser vor Catherine verbergen sollte. Schließlich erreichte sie die kleine Lichtung, auf der das lebensgroße Abbild der Mutter, verkleidet als Maria, stand. Die Statue war aus Holz geschnitzt und sehr alt. Die Nase war teilweise abgefault und die Farbe, die zu jedem Maifest erneuert wurde, blieb einfach nicht haften.
    Die Füße der Mutter zeigten Kratzer und Spuren, als hätte ein wildes Tier daran genagt. Ein frischer Rosmarinzweig, geschmückt mit glitzernden Regentropfen, war auf den Scheitel ihres himmelblauen Schleiers gelegt worden, doch der Regen hatte die zierlichere Girlande aus Wildblumen um ihren Hals zerstört. Andächtig trat Ana Magdalena vor, wischte mit der freien Hand die feuchten Olivenblätter fort, die auf den Schultern der Göttin klebten, und richtete die Girlande so gut es ging wieder her.
    Dann kniete sie sich vorsichtig, um mit dem Bündel auf den Armen nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten, auf die nasse Erde und flüsterte: »La bona Dea. Sie gehört dir, und ich schwöre bei meinem Geist, dass es immer so bleiben wird. Führe mich als ihre Lehrerin, und beschütze uns vor den bösen Kräften, die sie dir rauben wollen.«
    Und sie legte das kleine Kind auf das Bett aus Olivenblättern und nassen Blumen zu Füßen der Statue nieder, nahm den Dolch von ihrer Hüfte und zog mit federleichtem Druck das Zeichen Dianas auf der Stirn des Neugeborenen nach. Dann neigte sie das

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