Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon
sich, sondern eine Vision, die sie von der Göttin erbeten hatte, um den stärksten Zauber zu erfahren.
Sie besänftigte ihre Gedanken. Und mit einem heftigen Windstoß fegte das Feuer aus den Bäumen und hinterließ sie unversehrt und grün. Die Flammen züngelten über knisterndes Laub am Boden und verdichteten sich zu einem Ring um Ana Magdalenas Füße.
Noch immer litt sie große Schmerzen, und einen Moment lang flatterte Furcht in ihr auf wie ein Vogel auf der Suche nach einem Fluchtweg. Doch dann legte sich die Angst, denn zwischen ihr und dem Feind befand sich eine lebendige Frau an der Stelle, wo die Holzstatue gestanden hatte. Eine Frau mit glänzendem, schwarzem Haar und Augen, die dunkler waren als das Wasser in einem Brunnen, jung und stark, mit der Nase ihrer Mutter und den Lippen ihres Vaters und olivfarbener Haut.
»Sibilla«, flüsterte Ana Magdalena mit vor Freude bebender Stimme. Trotz der beharrlichen Qualen durch das Feuer spürte sie nichts als Liebe und Glück beim Anblick ihrer erwachsenen, wunderschönen Enkelin - und Staunen, denn vor ihren Augen wurde das Gesicht der Frau glückselig, durchscheinend, verwandelt von einem strahlenden Glanz, der von innen kam.
»La Dea vivat«, murmelte Ana Magdalena, die Göttin lebt. Denn weder ein menschliches Antlitz noch eine Holzstatue konnten einen so unendlichen Frieden ausstrahlen, so unendliche Freude und unendliches Mitgefühl. Sie hatte gewusst, dass ihre Enkelin für ein großes Schicksal ausersehen war, doch eines war ihr verborgen geblieben: dass Sybille dazu ausersehen war, eine Inkarnation der Göttin zu werden.
In diesem Augenblick öffnete sich Ana Magdalenas Herz, und sie empfand ein Erbarmen, das alles umfasste: die Flammen, den Schmerz, das Schicksal, das die Göttin für sie auserwählt hatte, wie immer es aussehen mochte. Es umfasste selbst den lauernden Feind, der am meisten zu bemitleiden war.
Als die Frau spürte, wie sich ihr Erbarmen auf seine fernen, glühenden Augen richtete, begannen sie sogleich zu schrumpfen, wurden immer kleiner, ebenso wie die dunkle Gestalt, bis die Kreatur nicht mehr die Größe eines Mannes besaß, sondern die eines kleinen Wolfs zunächst, dann die eines Hundes. Die gelbgrünen Augen flackerten auf, wurden schwächer und verloschen.
Furcht, erkannte Ana Magdalena, Furcht war für das Böse wie Fleisch für den Wolf - wenn man es damit nährte, wurde es stärker. Jetzt begriff sie auch die Mauer um das Herz ihrer Schwiegertochter und den Stoff, aus der sie gemacht war. Trotz Ana Magdalenas Zauber, trotz ihrer Gebete hatte Catherines Furcht das Kind der Gefahr ausgesetzt. Ruckartig kam Ana Magdalena wieder zu sich und bemerkte, dass sie allein im dunklen Olivenhain kniete, in dem es still war, bis auf das Rascheln kleiner Tiere. Vor ihr schlief ruhig die Enkelin. Melancholisch schaute Ana Magdalena zu der vertrauten Holzstatue empor, deren Mundwinkel in einem milden Lächeln leicht nach oben gezogen waren.
»Du hast mir diese Dinge aus einem bestimmten Grund gezeigt, bona Dea. Jetzt lass mich weise handeln.« Während sie betete, ertönte wie eine Antwort der Schrei einer Eule.
Zwei Wege liegen vor dir, sprach die Göttin mit einer ebenso lautlosen wie unmissverständlichen Stimme in Ana Magdalenas Herz.
Ein sicherer, der andere voller Gefahren. Die Entscheidung liegt bei dir. Nur der stärkste Zauber kann das Kind in das verwandeln, was es einmal werden soll. Nur der mächtigste, den sie allein nicht zuwege bringt. Somit habe ich sie von allen Menschen in der Welt in deine Obhut gegeben. Das ist dein Schicksal, der Grund, warum du geboren wurdest. Willst du dich für sie entscheiden? Für mich? »Ja, ich will«, flüsterte Ana Magdalena, und ihre Augen füllten sich mit Tränen der Liebe und des Kummers. »Ich will es. Und mögen wir beide unseren Weg finden, der uns sicher in deine schützenden Arme führt ...« Eine Weile kniete sie mit gesenktem Haupt vor der Göttin und öffnete ihr überwältigt ihr Herz. Dann stand sie auf und hob das Kind hoch.
Sie würde mit der kleinen Sibilla weiterhin bei den Eltern des Kindes wohnen bleiben. Warum sollte man ihnen Kummer zufügen, wenn der Feind dem Kind ohnehin überallhin folgen würde? Im Übrigen wusste Ana Magdalena jetzt, aus welcher Richtung das Böse versuchen würde anzugreifen.
Und ich muss aufpassen, dass ich keine Furcht in mein Herz einziehen lasse. Göttin, bitte hilf mir, sie zu zügeln. Schließlich verneigte sich Ana Magdalena vor
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