Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon
der Göttin und ging langsam durch den Olivenhain wieder zurück.
Im Bann eines verwirrenden Traumes warf sich Catherine unruhig im Schlaf hin und her: Das Kind schrie, ein kläglicher Eulenschrei, und dann spürte Catherine eine Regung in den geschwollenen Brüsten, plötzliche Nässe. Die Milch war wieder eingeschossen, und es war Zeit, das Kind zu stillen, das Kind ... Wo war es?
Es kam ihr so vor, als läge sie nicht mehr im Bett, und um sie herum war alles dunkel und in Dunst gehüllt. Wie sehr sie sich auch anstrengte, sie konnte ihre Tochter nicht finden, obwohl sie die Kleine doch neben sich gelegt hatte. Sie versuchte, laut zu rufen: Marie, mein Liebling ... Wohin haben sie dich gebracht, Liebes? Doch die Stimme erstarb ihr in der Kehle. Keinen Laut brachte sie hervor, vermochte nur blind und hilflos mit den Armen zu rudern, außer sich vor Liebe und Furcht um ihre neugeborene Tochter. Im wabernden Nebel, den sie vor sich sah, nahm etwas Dunkles Gestalt an. Blinzelnd bemühte sich Catherine, es zu erkennen, bis sie schließlich ihre Schwiegermutter in ihren dunklen Röcken ausmachen konnte. Das blauschwarze Haar hing ihr bis auf die Hüften herab. Ana Magdalena trug ihr Kind auf den Armen. Dankbar griff Catherine nach ihrer Tochter.
Doch die ältere Frau entzog sie ihr lachend. Je mehr Catherine sich bemühte, Sybille zu packen, umso weiter zog Ana Magdalena sie von ihr fort und neckte sie mit den Worten: Das Kind gehört mir, Catherine. Ich habe für seine Empfängnis gesorgt und dafür, dass es in deinem Leib blieb. Ich habe es zur Welt gebracht.
Nein, nein!, schrie Catherine. Meine Kleine! Gib mir Marie!
Sardonisches Lachen ertönte. Sie heißt Sibilla. Catherine schreckte auf. Mit zitternder Hand fuhr sie sich an die Brüste, aus denen tatsächlich Milch tropfte. Seitdem sie dieses Kind empfangen hatte, war sie immer wieder von wilden Träumen und entsetzlichen Bildern heimgesucht worden. Alle handelten von ihrer Schwiegermutter, die versuchte, das Mädchen zu töten. Sechs Jahre lang hatte sie in Frieden mit Ana Magdalena gelebt und sie sogar lieben gelernt, jetzt aber jagte allein der Gedanke an sie ihr einen so großen Schrecken ein, dass Catherine daran dachte fortzulaufen, ihren geliebten Mann zu verlassen und mit dem Säugling zu fliehen. Sie hätte es gewiss schon getan, wenn die Schwangerschaft sie nicht so sehr geschwächt hätte. Nach Avignon, so hatte sie vor Monaten entschieden, obwohl ihr nicht mehr einfiel, warum sie ausgerechnet dorthin gehen sollte.
Sie kannte niemanden in der Stadt und war auch noch nie dort gewesen, doch war Avignon eine heilige Stadt - ein tröstlicher Gedanke. Im Dunkeln wandte sie ihrem Mann das Gesicht zu. Pierre schlief neben ihr mit langsamen, tiefen Atemzügen, die wie Seufzer klangen.
Doch das Neugeborene, das zwischen ihnen gelegen hatte, war fort.
Der Schock war gewaltig. Mit einem Ruck fuhr Catherine hoch, das Herz schlug ihr bis zum Hals, und ihr erster flüchtiger und schrecklicher Gedanke war, dass sie oder Pierre auf dem Kind lägen und es unter sich erdrückten und erstickten, doch dafür gab es keine Anzeichen. Die Kleine war einfach verschwunden. Catherine drehte den Kopf zu der Seite, auf der Ana Magdalena schlief, und stellte fest, dass diese ebenfalls verschwunden war. Sogleich fiel ihr der Traum ein, und sie spürte die blinde Furcht wieder in sich aufsteigen. Catherine begann am ganzen Leib zu zittern. All ihre wilden Ängste waren also wahr:
Ana Magdalena hatte ihr die Tochter gestohlen. Sie stieß einen Schrei aus und schob sich aus dem Bett. Bei dem erneuten Schmerz, der sie wie ein Stich durchfuhr, als ihre Füße den Boden berührten, verzog sie das Gesicht. Als sie den ersten Schritt machte, drückte sie eine Hand auf die Lappen, die zwischen ihre Beine gebunden waren. Der Schmerz war durchdringend, und Ana Magdalena hatte sie davor gewarnt, sich am Tag nach der Geburt zu sehr zu bewegen, denn sonst könnten wieder Blutungen einsetzen. Mit einer Hand auf dem Bauch - Catherine war überrascht, dass er noch dick, wenn auch weich und inzwischen leer war - und mit der anderen zwischen den Beinen schlurfte sie gebeugt zu der halb offenen Tür. Auf der Schwelle blieb sie stehen und spähte hinaus. Sie suchte nach der Silhouette einer Frau, die ein kleines Kind wiegte, und rief in heiserem Flüsterton: »Ana! Ana Magdalena!«
Keine Antwort. Der Mond schien so hell, dass sie die strohgedeckten Katen der anderen Leibeigenen sehen konnte,
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