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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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Neben uns wohnten Marie und Georges, sie waren die reichsten unter unseren Nachbarn, denn sie besaßen einen Esel und einen Wagen. Als ich zu ihnen hinüberging, fand ich den Wagen und das Tier draußen angebunden und rief ins Haus. Die obere Hälfte der Tür stand offen, doch drinnen war es unheimlich still. Ich nahm den Esel und den Wagen mit zu uns, ohne zu zögern, denn ich vermutete, dass die Besitzer sie nie wieder brauchten.
    Als ich nach Hause kam, machten Noni und ich uns an die traurige Aufgabe, die Leiche meines armen Vaters auf den Wagen zu heben. Tote sind viel schwerer, als sie je im Leben waren, und als ich Papa unter den Armen anhob und Noni seine Beine nahm, wusste ich, dass es uns nicht gelingen würde.
    In diesem furchtbaren Augenblick klopfte es an unserer Tür. Papas baumelnder Kopf nahm mir die Sicht auf den Besucher, und Noni stand mit dem Rücken zur Schwelle.
    »Geht!«, rief meine Großmutter ärgerlich unter Tränen und blieb auf unserem beschwerlichen Weg zur Tür stehen. »In diesem Haus ist die Pest. Seht Ihr denn nicht, dass mein Sohn gestorben ist? Außerdem habe ich auch keine Kräuter mehr abzugeben!«
    Eine tiefe, wohlklingende Stimme antwortete: »Ich bin nicht gekommen, um etwas zu nehmen, sondern um zu helfen.« Neugier blitzte in Nonis Augen auf. Ganz sachte ließ sie die verhüllten Beine ihres Sohnes zu Boden gleiten und drehte sich um. Auch ich legte Papa sanft ab und folgte ihrem Blick.
    Draußen stand ein großer Mann mit wettergegerbtem Gesicht, durch dessen ergrauten Bart sich der Länge nach ein weißer Streifen zog. An den dunklen Augen mit den schweren Lidern und an der gebogenen Nase konnte man ihn unschwer als Juden erkennen, auch wenn er nicht den gelben Filzflecken und den spitzen Hut getragen hätte. Es war ungewöhnlich für einen Juden, sich außerhalb der Stadtmauern zu bewegen. Zu ihrer eigenen Sicherheit blieben sie für gewöhnlich in dem ihnen zugewiesenen Stadtviertel, brachten ihre Kinder ohne fremde Hilfe zur Welt und pflegten auch ihre Kranken selbst. Ich dachte an die Geschichten, die ich von anderen über Juden gehört hatte, doch in der Erscheinung dieses Mannes lag nichts Monströses. Seine Augen waren alt und wässrig, das Weiß wurde schon gelb. Die Iris war so dunkel, dass die Pupillen kaum zu sehen waren. Zugleich waren es die eindrucksvollsten und freundlichsten Augen, die ich je gesehen hatte.
    Da wusste ich, dass er unserem Geschlecht angehörte. Auch Noni musste von ihm beeindruckt gewesen sein, denn sie antwortete leise: »Warum seid Ihr gekommen, Herr? Hier ist es nicht sicher, die Pest hat Einzug gehalten.«
    »Nirgends ist es sicher«, antwortete der alte Jude, »Gott hat mir ohnehin zu wenig Zeit gelassen.« Ohne ein weiteres Wort trat er ins Haus und bedeutete mir, zur Seite zu gehen. Dann hob er Papa unter den Armen hoch. So seltsam es auch heute nach all den Jahren anmutet, damals schien es mir das Normalste von der Welt zu sein, an Nonis Seite zu eilen und mit ihr zusammen Papas Beine zu greifen. Ich nahm das linke, sie das rechte, und mit Hilfe des Fremden gelang es uns, die Leiche auf Georges' Wagen zu heben.
    »Mon Seigneur«, sprach ich ihn an - ein Titel, der Juden nur selten gewährt wurde -, »vielen Dank für Eure Hilfe.« Als Antwort zog er ein kleines Stück zusammengelegter Seide unter seinem schwarzen Mantel hervor und hielt es mir hin. Ich zögerte.
    »Wir wollen kein Geld«, erklärte Noni hastig. »Eure Hilfe war bereits unermesslich. Im Übrigen habe ich durch das Leiden der Kranken genug Gold erhalten.«
    Er schaute sie an, und ein kleines, wehmütiges Lächeln erwärmte seine Miene. »Es ist keine Münze.« Er hielt mir den Stoff erneut hin, und diesmal spürte ich die Wärme, die er ausströmte, und nahm ihn an. Ehrfürchtig öffnete ich die Seide und warf einen neugierigen Blick hinein. Es war tatsächlich Gold, eine dünne Scheibe in der Größe eines Livre, die an einer dicken Goldkette hing. Kreise, Sterne und merkwürdige, mir fremde Buchstaben waren eingraviert. Obwohl ich damals nicht lesen konnte, wusste ich, dass diese Sprache viel rätselhafter war als meine französische Muttersprache.
    Die Scheibe strahlte wärmer und weißer als alles, was ich bisher gesehen hatte, wie ein Stern, und ich wusste sofort:
    Dieser Jude kannte die Göttin; dieser Jude kannte eine Magie, die größer und mächtiger war als diejenige, die Noni mich gelehrt hatte. Das hier ging über heilende Amulette hinaus und auch über

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